Polen V – oder: von Äpfelklau, Langsamkeit und den längsten fünf Kilometern der Welt

Bevor wir Warschau verlassen, fahren wir noch einen halben Tag lang mit den bepackten Fahrrädern durch die Neustadt und stellen dabei fest, dass die Stadt sehr schön ist, aber nicht mit uns auf ein Foto passt.

Apfelbäume und Schlafplatzsuche

Unsere Route soll uns in den nächsten Tagen ziemlich direkt in den Süden Polens führen und dann weiter in die Slowakei – wir wollen die Karpaten sehen und überqueren. Direkt hinter der Stadt fühlen wir uns allerdings erstmal als wären wir zurück in Deutschland, und zwar im Alten Land: Apfelbäume säumen die Straßenränder so weit das Auge reicht. Wir sind mitten in einem der größten Obstanbaugebiete Europas angekommen.

Das hat für uns den Vorteil, dass wir uns den einen oder anderen Złoty für Obst aus dem Supermarkt sparen können, stellt uns allerdings ganz praktisch vor eine große Herausforderung: Wo sollen wir schlafen? Die Plantagen fallen aus, weil sie hunderte Meter lang sind und die Bäume in Reih und Glied stehen, weshalb sie keinerlei Sichtschutz bieten. Außer Plantagen gibt es hier allerdings nicht viel – keine Wälder, keine Wiesen, keine Felder. Nur Apfelbäume.

Wir suchen sehr lange, finden einen Dorfteich, hinter dem wir verschwinden könnten, kommen aber nicht ungesehen dorthin. Wir fragen jemanden, ob wir dort campen könnten, der weiß aber nichts und kann auch nicht sagen, wen wir fragen sollen. Also fahren wir weiter. Als die Dämmerung bereits einsetzt, finden wir zur Abwechslung doch mal  ein Feld und dahinter etwas Schutz zwischen ein paar Bäumen.

Nachdem wir das Gebiet am nächsten Tag verlassen haben, haben wir keine Probleme mehr, einen Schlafplatz zu finden. Wir übernachten an Seen, auf Feldern, in Wäldern. Einmal finden wir sogar einen Campingplatz in der Winterpause und nutzen eine der Feuerstellen, um ein Lagerfeuer zu machen.

Veränderung

Allerdings müssen wir uns jetzt an zwei neue Gedanken gewöhnen:

  1. Es wird Herbst. Wir haben nun deutlich öfter mit Regen und Wind zu tun als noch vor ein paar Wochen und abends, nachdem die Sonne untergegangen ist – was übrigens immer früher passiert -, wird es schnell kalt. In einer Nacht haben wir sogar nur fünf Grad – unsere Isomatten und Schlafsäcke machen ihre Jobs aber ganz wunderbar.
  2. Es wird hügelig. Nachdem wir die ersten drei Monate unserer Reise in den flachsten Ländern Europas verbracht haben, geht es nun langsam aber sicher bergauf. Die Anstiege sind noch gnädig – kurz und flach – und stets gefolgt von einer entspannenden Abfahrt, aber sie sind da und sie werden nicht weniger. 

Der furchtbarste Ort der Welt

An einem Abend Ende September erreichen wir die Stadt Oświęcim, die vor einigen Jahrzehnten noch Auschwitz hieß und als Synonym für Leid und Schrecken auf der ganzen Welt bekannt war.

Wir erreichen das Museum gerade noch rechtzeitig, um zwei Eintrittskarten für den Abend zu bekommen. Der Eintritt ist kostenlos, aber begrenzt, weshalb es auch zu langen Wartezeiten kommen kann, wenn man nicht rechtzeitig reserviert, was uns nicht möglich war.

In den folgenden anderthalb Stunden sehen wir Zeugnisse so viel ekelerregender Grausamkeit, dass wir es schlicht nicht begreifen können. Es ist eine Sache, von Auschwitz in der Schule zu lernen oder im Internet zu lesen, aber vor Ort gewesen zu sein, die Berge von Koffern, Brillen und Schuhen zu sehen, von den tausenden Fotos von Insassen in den Fluren der Baracken verfolgt zu werden und die Schicksale von Kindern, Frauen, Männern vor Augen geführt zu bekommen – das ist eine ganz andere Dimension.

Als das Museum um 19:30 Uhr schließt, sind wir fast die einzigen Menschen auf dem Gelände, die Sonne ist bereits untergegangen und die Beleuchtung nur ganz schwach, die Baracken sehen alle gleich aus und wir sind für heute wirklich fertig mit der Welt.

Ursprünglich hatten wir geplant, die Stadt nun zu verlassen und irgendwo in einem Wald einen Schlafplatz zu suchen, aber irgendwie scheint diese Vorstellung in weite Ferne gerückt, unmöglich geworden zu sein. Stattdessen suchen wir eine Unterkunft in der Stadt und werden von Christina, die Apartments in ihrem Haus vermietet so herzlich empfangen, dass wir es gar nicht glauben können. Sie zeigt uns alle verfügbaren Zimmer, gibt Tipps zum Einkaufen und Essengehen und kocht uns direkt einen Tee, als sie unsere kalten Hände bemerkt und irgendwie ist es genau das, was wir gerade brauchen.

Am nächsten Morgen verabschiedet sie uns noch lang und breit, beobachtet, wie wir die Fahrräder packen und bittet uns, immer schön langsam zu fahren.

100 Tage langsam

Das ist für uns natürlich gar kein Problem, denn wir haben ja Zeit, zumal wir an diesem Tag unseren 100. Tag auf Reisen feiern. Da sind wir also seit mehr als einem Vierteljahr auf Weltreise und immer noch in einem Nachbarland von Deutschland. Das müsste langsam genug sein.

Wir erreichen zur Feier des Tages Krakau, gönnen uns ein Fußballspiel von Cracovia im Polnischen Pokal [Bericht dazu hier] und haben trotz einer sehr kurzfristigen Anfrage Glück bei einer Warmshowers-Familie, auf deren Couch wir für zwei Nächte unterkommen können.

Anna und Witek sind super Hosts, wir verbringen die Abende zusammen, schauen gemeinsam das Halbfinale der Volleyball-EM zwischen Polen und Slowenien auf der Leinwand im Wohnzimmer und Witek hilft uns bei der Planung unserer Route für die nächsten Tage, einen Weg zu finden, der nicht zu viele Höhenmeter enthält, aber trotzdem schön ist.

You forget how to walk

Zwischendurch schauen wir uns natürlich auch Krakau an und sind begeistert von der wunderschönen Altstadt mit dem riesigen Marktplatz, dem alternativen jüdischen Viertel und der Burg Wawel, die über die Stadt zu wachen scheint.

Am Ende des Tages sind wir bestimmt zwölf Kilometer durch die Stadt gelaufen und stellen fest, dass sechzig Kilometer Fahrradfahren nicht annähernd so anstrengend sind. Oder wie es mal jemand aus dem Coolest Cycling Club gesagt hat: „You forget how to walk.“ Amen.

Bevor wir Anna und Witek verlassen, kann Witek das Knacken an Denis‘ Fahrrad beseitigen, indem er das Tretlager reinigt. Außerdem vermitteln die beiden uns direkt an einen Freund weiter, der im Süden ein offenes Haus für alle Leute hat, die bei ihm einkehren wollen. Seine Frau ist zwar gerade zum Wandern in der Ukraine, aber Jarek nimmt uns trotzdem auf.

Damit hätten wir also auch schon ein Ziel für den nächsten Tag: Szczawa, etwa achtzig Kilometer entfernt.

Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt

Hinter Krakau beginnen die Berge. Das hatten uns Anna und Witek mit auf den Weg gegeben. Aber dass sie so schnell und so steil beginnen, damit hatten wir nicht gerechnet. Nach zwanzig Kilometern müssen wir uns dem Anstieg zum ersten Mal geschlagen geben – zu steil, zu schotterbehaftet, zu heiß in der Mittagssonne. Das Schieben ist allerdings auch nicht viel leichter als das Fahren, einzig das Halten des Gleichgewichts ist einfacher und die Verteilung der Kraft, die aufgebracht werden muss, etwas angenehmer.

Als wir also komplett durchgeschwitzt oben stehen und irgendwann wieder in einer als normal zu bezeichnen Frequenz atmen können, folgt eine Belohnung in Form von kaltem Zuckerwasser aus dem nächsten Dorfladen, gefolgt von einer ganz netten Abfahrt.

Die folgenden Stunden sind ein unendliches Auf und Ab bis wir vor einem Schild stoppen, das uns 17 Prozent Steigung ankündigt. Siebzehn! Prozent! Wir hoffen darauf, dass da jemand ein Komma vergessen hat, sind uns aber im Klaren darüber, dass das nicht der Fall ist.

Wir stürzen uns dennoch in den Kampf, nehmen Anlauf, schalten runter, bringen alle Kraft in die Beine, aber es nützt nichts. Es ist wieder zu steil und der Abschnitt einfach zu lang. Als wir hoch schieben überholt uns ein Rennradfahrer, der ein wenig schneller ist als wir zu Fuß und noch genügend Puste hat, zu fragen, woher wir kommen.

Irgendwann erreichen wir dann allerdings doch den anvisierten Punkt, der mit 800 Metern der bisher höchste unserer Reise ist. Wir haben es bis hierhin tatsächlich geschafft, mehr als 5.000 Kilometer mit dem Fahrrad durch Europa zu fahren, ohne je die 500 Meter zu überschreiten.

Fünf Kilometer

Wir hatten vorab mit Jarek ausgemacht, dass wir vor 19:00 Uhr bei ihm ankommen würden, weil er dann zum Basketballtraining fahren wollte. Da wir kurz nach 18:00 Uhr nur noch fünf Kilometer vor uns haben und der Rest des Weges bergab gehen soll, machen wir uns keine Sorgen, dass wir es nicht pünktlich schaffen könnten.

Dann aber biegen wir in den Wald ab und der aufmerksame Leser ahnt, was das bedeutet: schlechte Wege. Nun, schlecht ist dieser folgende Weg nicht. Er ist vielmehr eine einzige Katastrophe.

Zuerst fahren wir mutig auf dem bekannten feinen Sand in den Wald, es geht auch direkt bergab, sodass ein Umdrehen von vornherein ausgeschlossen ist. Irgendwann verringert sich unsere Geschwindigkeit, schließlich müssen wir absteigen, denn der Sand ist zu weich und – noch viel schlimmer – die Spurrillen zu tief. An der schlimmsten Stelle schleifen die Taschen der Vorderräder auf dem Boden, es wird langsam immer dunkler und wir immer langsamer.

Irgendwann haben wir die Route verlassen, die unsere Navigationsapp berechnet hat, ohne dass wir irgendwo einen Abzweig gesehen hätten. Wir sind also mehr oder weniger auf uns allein gestellt, was das Finden der nächsten Abbiegung angeht.

Und dann endet der Weg. Einfach so. Mitten im Wald, nach drei Kilometern steil bergab. Empfang mit dem Handy haben wir natürlich nicht, sodass wir Jarek auch nicht darauf vorbereiten können, dass wir uns eventuell doch verspäten, denn es ist bereits kurz vor sieben. Und mittlerweile richtig dunkel.

Wir tauschen schließlich Helme gegen Stirnlampen und finden doch noch einen Weg hinter einem umgestürzten Baum, für den wir allerdings einige Meter zurück – also bergauf – schieben müssen.

Kurz bevor wir auf die Straße abbiegen sollen, die uns nach Szczawa führt, kommt dann eine Stelle, die zu Fuß, ohne Fahrrad schon knifflig wäre, denn sie ist steil, eng und schon gut ausgelatscht. Um den Puls kurz vor dem Ziel nicht zu tief absinken zu lassen, schließt sich direkt ein Bach an, der zwar sehr flach, aber auch sehr steinig und rutschig ist. Es dauert eine Weile und erfordert viel Anstrengung, aber gemeinsam bekommen wir die Räder nacheinander auf die Straße. Mittlerweile ist es 19:30 Uhr.

Wir drücken schließlich auf die Tube, lassen uns schnellstmöglich den letzten Kilometer in den Ort rollen und treffen Jarek als er gerade im Auto auf dem Weg zum Training ist. Zum Glück nimmt er sich kurz Zeit, uns ins Haus zu lassen und uns alles zu zeigen.

Villa Kunterbunt

Wir brauchen dann erstmal ein paar Minuten, um klar zu kommen, und dann teilen wir uns auf. Denis fährt kurz in den Dorfladen, denn ein solcher Tag muss mit einem anständigen Essen und einem Kaltgetränk beendet werden. Anika bürstet unterdessen die Taschen ab, denn die sind so voller Matsch, dass sie nicht ins Haus gebracht werden können. Die Fahrräder bleiben draußen im Garten und finden einen Platz neben der Waschmaschinen-Blumentopf-Kombination.

Das Haus von Jarek ist der Oberhammer. Er und seine Frau Gosia sind auf allen Hosting-Portalen vertreten, die das Internet zu bieten hat, und haben das Haus so eingerichtet, dass es möglichst vielen Gästen einen Schlafplatz bietet. Im Obergeschoss gibt es einen riesigen Raum voller Betten und Sofas, in dem bestimmt fünfzehn Leute bequem unterkommen können. An einem Silvester sind wohl mal über vierzig Leute zu Besuch gewesen. [Falls ihr Lust habt, dort ebenfalls mal unterzukommen, schaut doch mal hier.]

Wir sind heute die einzigen Gäste und suchen uns ein Doppelbett zwischen einem Schrank voller Isomatten und einem Doppelstockbett aus. In der Küche wird unter Aufsicht von zwei Hunden und einer Katze gekocht.

Am nächsten Morgen zeigt uns Jarek nach dem Frühstück noch den Raum, der eigentlich fast eine kleine Wohnung für sich ist, in dem die zwölf Katzen seiner Frau leben. Es handelt sich um Maine-Coon-Katzen, die sehr groß, aber sehr schön werden, und bei Gosia im Katzenparadies leben.

Nachdem wir später die Fahrräder grob vom Schlamm befreit haben, machen wir uns direkt auf den Weg. Wir fahren in den Pieninski Nationalpark, folgen einem tollen Weg am Fluss entlang, von dem aus wir die bunten Bäume auf den Bergen links und rechts im Blick haben, und erreichen schließlich hinter einer Kurve die Slowakei, ohne dass es wirklich erkennbar ist, dass wir eine Staatsgrenze überschreiten.

Damit verlassen wir Polen zum zweiten Mal und sind froh, so lange in diesem tollen Land gewesen zu sein – in Summe waren es 34 Tage. Wir haben die Polen als sehr freundliche Menschen erlebt, die immer und überall grüßen, und bei Interesse keine Scheu hatten, uns anzusprechen. Wir kommen mittlerweile mit der Umrechnung von Złoty in Euro ganz gut klar und können die wichtigsten Wörter, um nicht verhungern zu müssen – beides Umstände, die wir spätestens in Ungarn zu schätzen wissen. 

Ein paar Daten

  • Kilometerstand*:
  • Strecke (grob): Warschau – Konskie – Oświęcim – Krakau – Szczawa
  • Übernachtungen: 5 x Zelt, 1 x Apartment, 3 x Warmshowers
  • Zeitraum: 19. – 28. September 2019

* am Ende dieser Etappe

In eigener Sache

Wie ihr vielleicht wisst, finanzieren wir unsere Fahrradweltreise komplett selbst und haben keinen großen Sponsor, der uns versorgt. Wir haben einen Betrag gespart, mit dem wir erstmal eine Weile leben können. Dennoch werden wir bald versuchen, über unseren Blog einige Einnahmen zu generieren, um die Website am Laufen zu halten und einige Kosten zu decken, die auf der Reise anfallen. Erfahrungen anderer Reisender zeigen, dass man durchschnittlich mit etwa zehn Euro pro Person und Tag rechnen kann, womit dann neben der Verpflegung auch Anschaffungen, Reparaturen, Visa etc. abgedeckt sind. Falls ihr Lust habt, uns dabei zu unterstützen, könnt ihr ganz einfach über [diesen Link] einen selbst bestimmten Betrag per Paypal an uns senden. Wir freuen uns über jeden Euro!

Von Anika

Irgendwas mit Fahrradfahren.

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