Litauen II – oder: Gegenwind und Gastfreundschaft

Obwohl wir ja bereits auf unserem Weg nach Estland in Litauen gewesen sind, wissen wir erstmal nicht allzu viel über das Land, denn unser erster Aufenthalt hier hat nicht viel länger als einen Tag gedauert. Dementsprechend gespannt sind wir auf das, was uns erwartet.

Erster Eindruck

Über die E77 erreichen wir Litauen am späten Nachmittag. Auf der rechten Straßenseite erinnert der mittlerweile leer stehende Grenzposten an die Zeit vor der EU und kurz dahinter winkt ein Verkehrspolizist einen lettischen PKW rechts ran, während er uns passieren lässt und freundlich grüßt. Der erste Eindruck ist also schon mal ein positiver.

Wir fahren an diesem Tag nur noch in die etwa 15 Kilometer entfernte Stadt Joniškis, an deren Rand sich ein See befindet, an dem wir die Nacht verbringen wollen. Das Ufer ist nicht ganz so ursprünglich und ruhig wie wir es erwartet hatten – tatsächlich befinden wir uns in einem kleinen Park. Nachdem wir gegessen haben und die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, ist allerdings auch niemand mehr da, der sich an unserem Zelt oder der Tatsache stören könnte, dass wir dort die Nacht verbringen.

Der Berg der Kreuze

Als wir am nächsten Morgen aufstehen, sind schon ein paar Angler vor Ort, und später kommen einige Frühsportler und ein Nacktbader dazu, von denen es auch niemanden stört, dass wir in der Sitzgruppe frühstücken und darauf warten, dass unser Zelt trocknet.

Nachdem wir alles erledigt und zusammen gepackt haben, brechen wir auf in Richtung Šiauliai, denn wir wollen zum Berg der Kreuze, der sich etwa zehn Kilometer vor der Stadt befindet. Der versprochene Fahrradweg endet leider etwas unerwartet nach der knappen Hälfte des Weges, weshalb wir eine ganze Weile auf einer vielbefahrenen Fernverkehrsstraße unterwegs sind, was mit dem Fahrrad nie angenehm und immer sehr ermüdend ist.

Dementsprechend fertig kommen wir nach dreißig Kilometern am Berg der Kreuze an und lassen uns erstmal unter einem Baum in Sichtweite des Berges nieder. Nachdem wir eine Stunde gerastet und gegessen haben, könnten wir uns den Berg tatsächlich mal näher ansehen, bleiben aber erstmal noch zwei weitere Stunden im Schatten liegen, um Hansas Heimsieg gegen Münster zu sehen und feiern.

Der Hügel der Kreuze

Dann ist es schließlich an der Zeit, dass wir mal aufstehen und uns den Berg der Kreuze ansehen, der von Weitem erstmal nicht sonderlich eindrucksvoll aussieht, denn es handelt sich genau genommen nicht mal um einen Hügel, sondern einfach um eine Ansammlung von Kreuzen auf einem künstlichen Erdhaufen.

Aus nächster Nähe betrachtet ist es allerdings schon interessant zu sehen, wie viele Kreuze aus allen möglichen Materialien und Größen auf einen so kleinen Raum passen.

Vor allem die kleinen Holzkreuze, die an den großen Kreuzen und Figuren hängen, sind interessant anzusehen, auch wenn wir selbst keinen kirchlichen Hintergrund haben.

Wie genau das alles mit diesem Berg angefangen hat, weiß man inzwischen nicht mehr so genau. Fakt ist allerdings, dass hier bereits im 19. Jahrhundert Kreuze aufgestellt worden sind und der Berg zu Zeiten der Besatzung durch die Sowjetunion als Symbol des Widerstands galt, weil hier Kreuze für verstorbene Gulag-Häftlinge und politische Gefangene aufgestellt wurden. Nach Räumungsaktionen der Sowjets standen am folgenden Tag bereits neue Kreuze.

Besuch am See

Wir fahren schließlich weiter nach Šiauliai, versorgen uns mit Lebensmitteln und Wasser an einem Einkaufszentrum und suchen nach einer kleinen Stadtrundfahrt nach einem Schlafplatz.

Die Stadt selbst ist relativ groß und deswegen ungeeignet, um ähnlich wie am Vorabend einfach am städtischen See zu schlafen. Wir finden stattdessen etwas außerhalb einen See mit einem Unterstand auf der Karte und fahren einfach mal dorthin in der Hoffnung, nicht allzu viele Leute dort anzutreffen.

Tatsächlich sind wir ganz allein an diesem Ort, der früher mal ein Rastplatz gewesen zu sein scheint, mittlerweile aber nicht mehr betrieben wird. Es gibt zwar eine Schranke, aber kein „Betreten verboten“-Schild, weshalb wir unser Zelt einfach in einem der beiden Unterstände aufbauen.

Während wir drinnen Abendbrot essen, hören wir draußen Schritte, die sich uns nähern und immer in unserer Nähe bleiben. Wir wissen nicht genau, wie wir darauf reagieren sollen, denn wir vermuten zuerst einen Menschen, was an diesem Ort zu dieser Zeit ziemlich gruselig wäre.

Weil die Schritte allerdings weiterhin zu hören bleiben, obwohl wir offensichtlich darauf aufmerksam geworden sind und darüber flüstern, vermuten wir schließlich ein Tier, das verschwindet als wir gleichzeitig aus den beiden Eingängen unseres Zeltes heraus kommen.

[Wir haben diesen Tag mal als Beispiel genommen, um euch genau zu zeigen, wie so ein Tag auf Fahrrad-Weltreise bei uns aussieht. Falls ihr Lust habt, schaut doch mal hier rein.]

Gegenwind, Verkehr und Menschen

Am folgenden Tag kämpfen wir sehr lange gegen den Wind, der zuerst stark von der Seite kommt und – nach dem Abbiegen – direkt von vorne. Das Demorivierende an Gegenwind ist, dass viel mehr Kraft für eine viel geringere Geschwindigkeit aufgebracht werden muss, ohne dass am Ende etwas dabei heraus kommt. Man ist am Ende nicht weiter oder schneller gefahren oder hat einen Berg bezwungen, sondern hat nur mehr Zeit für eine kürzere Strecke gebraucht. Die Angriffsfläche, die die Taschen dem Wind bieten, zusammen mit dem Gewicht, das bewegt werden will, sorgt schon mal dafür, dass man nur zwölf statt zwanzig Kilometer in der Stunde macht.

Erschwerend hinzu kommt, dass wir uns eigentlich für Nebenstraßen entschieden haben, die an diesem Tag allerdings sehr stark befahren sind. In Litauen hält man es beim Überholen ähnlich wie in Russland: Fahrradfahrer sind zu schwach, um ernstgenommen zu werden – in der Regel wird nicht ernsthaft ausgeschert. Einen LKW könnten wir mit der Hand berühren, so eng überholt er uns.

Zum Gegenwind und dem Verkehr kommt dann noch hinzu, dass uns die Leute mittlerweile auf die Nerven gehen. Dass wir von vielen einfach angestarrt werden, ist uns nicht neu. Dass aber weiter gestarrt wird, wenn wir grüßen, allerdings schon. Meistens sind die Leute so erschrocken, dass sie schnell wegsehen, oder sie grüßen einfach zurück. In Litauen wird gestarrt, als würden wir das nicht bemerken. Das hilft uns in Sachen Motivation nicht direkt weiter.

Dafür finden wir am Abend allerdings eher unerwartet einen schönen Rastplatz mitten im Wald, an dem wir gemütlich und unbeobachtet essen und schlafen können.

Erster Schultag

Der nächste Tag ist der erste Werktag im September und damit auch der erste Schultag im ganzen Land. In jedem Ort, den wir an diesem Tag durchqueren, sehen wir Jungen in Anzügen und Mädchen in Kleidern, denn der erste Schultag ist ein großes Fest, das erst gegen Mittag beginnt und an dem die ganze Familie teilnimmt.

Die Lehrer bekommen Blumen geschenkt, was erklärt, warum wir am Vorabend noch viele Leute im Konsum haben Blumen kaufen sehen.

Wir bleiben an diesem Tag noch ein bisschen auf unserer vielbefahrenen Straße, die zu einer kaum befahrenen Dorfstraße wird, nachdem sie die Autobahn gekreuzt hat.

Zehn Kilometer vor der nächsten größeren Stadt Kaunas finden wir einen tollen Camping Spot an einem Fluss mit Blick auf ebendiesen. Wir sind hier nicht ganz ungesehen, denn der eine oder andere Passant kommt vorbei, aber wir haben mal wieder nicht das Gefühl, dass sich irgendjemand an uns stört.

Geschichte hautnah

Der nächste Tag ist für die Stadt Kaunas reserviert, die wir uns ganz genau ansehen wollen.

Im 19. Jahrhundert wurde die Stadt durch die Russen zu einer Festung mit einer Mauer und verschiedenen Forts (Toren) ausgebaut. Am IX. Fort erreichen wir die Stadt an einem typisch-sowjetischen Denkmal von gigantischem Ausmaß mit gigantischer Eckigkeit. Damit hatten wir gerechnet, denn das Denkmal war bereits aus mehreren Kilometern Entfernung zu sehen.

Womit wir nicht in der Form gerechnet hatten und was uns dadurch viel mehr getroffen hat, war eine Gedenkstätte direkt daneben, die an den Massenmord erinnert, der hier durch die Nazis begangen wurde. 50.000 Menschen – fünfzigtausend! – wurden hier ermordet, verbrannt und in einem Massengrab verscharrt.

In dem Graben um den Erdwall herum, der sich um das Fort befindet, braucht es nicht viel Vorstellungskraft, um zu erkennen, wo und wie die Erschießungen stattfanden.

Wir sind beide ergriffen von dem, was wir hier sehen, sodass wir kurz später erstmal eine Pause einlegen, um auf andere Gedanken zu kommen. An einem Aussichtspunkt im Norden der Stadt machen wir also erstmal Halt, um den Kopf ein wenig frei zu bekommen und uns auf die Stadt einzulassen, die wir heute erkunden wollen.

Wunderbares Kaunas

Was am Stadtrand noch als eine Schlaglochebene mit Bordsteinen von einem halben Meter Höhe daherkommt, wird im Zentrum immer mehr zu einem richtig tollen Fahrradweg, der sich durch die Stadt und die Parkanlagen an der Memel zieht.

Wir fahren zur Burg von Kaunas, an den Punkt, an dem sich Memel und Neris treffen, und schließlich in die Altstadt mit ihrer gemütlichen Fußgängerzone.

Am heutigen Tag spielt Litauen bei der Basketball-WM gegen Kanada und während wir in der Stadt unterwegs sind, findet sich kaum ein Café oder Restaurant, in dem das Spiel nicht gezeigt wird, denn Basketball ist der Nationalsport des Landes und Litauen ist darin auch einigermaßen erfolgreich.

Später folgen wir den Fahrradwegen durch den Wald und am Flussufer der Memel entlang, die deutlich über ihrem Normalstand zu stehen und – gemessen an der Anzahl der Angler – eine ganze Menge Fische zu führen scheint.

Gastfreundschaft auf Litauisch

Seitdem wir die Stadt erreicht haben, reagieren die Leute auf einen Schlag komplett anders auf uns. Waren zuvor starren und abschätzige Blicke an der Tagesordnung, werden wir nun angelächelt, gegrüßt und angezwinkert und wir können uns beim besten Willen nicht erklären, was wir nun anders machen als vorher.

Am Abend verlassen wir die Stadt und kehren mal wieder bei einem Warmshowers-Host ein. (Warmshowers ist eine Plattform, auf der Radfahrer anderen Radfahrern eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit anbieten.)

Paulius und Lina empfangen uns sehr herzlich. Weil ihre Tochter gerade in die Vorschule gekommen ist, sind ein Cousin und eine Cousine zu Gast und es gibt Sushi und Lasagne, zu denen wir eingeladen werden. Es schmeckt großartig und wir verbringen einen tollen Abend zusammen, an dem wir uns über unsere Erfahrungen auf Reisen austauschen, einen Film von früheren Gästen der beiden schauen und die beiden uns sogar ihre Urlaubsfotos zeigen.

Am nächsten Morgen frühstücken wir gemeinsam, bevor wir genauso herzliche verabschiedet werden wie wir begrüßt worden sind. Wir bekommen Obst aus dem eigenen Garten für den Weg und eine Schraube, die wir an einer Fahrradtasche einige Tage zuvor verloren hatten. Wir sind ein weiteres Mal begeistert von so viel Gastfreundschaft und Herzlichkeit.

Baumstämme und Laubhaken

Einem Tipp von Paulius folgend nehmen wir eine weniger befahrene Straße als wir eigentlich geplant hatten. Diese ist zwar sieben Kilometer länger als unsere ursprüngliche Route, aber gemessen an den LKW, die auf die andere Straße fahren, ist das eine gute und vor allem entspannte Entscheidung.

In der Stadt Kazlu Ruda legen wir eine Pause im Park vor dem örtlichen Konsum ein und beobachten das Dorfleben und die junge Frau, die das Laub im Park kehrt und jedes Mal eine Pause einlegt, wenn jemand vorbei kommt, den sie kennt. Und sie scheint den gesamten Ort zu kennen.

Wir sitzen in diesem Park zwischen und auf riesigen Holzschnitzereien, die uns schon eine ganze Weile begleiten. Es handelt sich meist um komplette Baumstämme, aus denen Bänke, Statuen oder einfach verzierte Pfähle gemacht werden und die in Parks und in Grundstückseinfahrten aufgestellt sind. Wir beide – mit insgesamt vier linken Händen ausgestattet – sind sehr beeindruckt von dieser Kreativität und Kunstfertigkeit.

Weil wir mal wieder den ganzen Tag gegen den Wind fahren, hält sich die Lust auf Fahrradfahren in Grenzen. Das gemeine an diesem Wind ist, dass er uns von vorne kommend gut bremst und noch besser in den Ohren dröhnt. Auf einem Abschnitt von vielleicht hundert Metern haben wir ihn kurz von hinten und fühlen uns wie am windstillsten Punkt Litauens: kein Anschub, komplette Ruhe. Dann eine einfache Abbiegung und alles ist wie vorher.

Weil sich der Wind am späten Nachmittag legt, kommt der Spaß am Fahrradfahren wieder und wir fahren deutlich länger als geplant in der Abendsonne und haben am Ende des Tages ungeplant und unerwartet mehr als achzig Kilometer auf dem Tacho.

Wir campen am Rande eines Feldes, auf dem man uns vom Weg aus sehr gut sehen würde, treffen aber die richtige Annahme, dass sowieso niemand vorbei kommt.

Wieder nach Polen

Am nächsten Tag geht es weiter gegen den Wind, mit einem Angriff durch einen Hund, der bestimmt zweihundert Meter über das Feld gerannt kommt, um Denis anzubellen, und der Überquerung der Grenze nach Polen, die ganz unspektakulär mitten im Wald stattfindet.

Damit sind wir zwei Monate und drei Tage, nachdem wir Deutschland verlassen haben, wieder in dem Land angekommen, das das erste Ausland ist, in das wir mit dem Fahrrad gefahren sind. Wir sind begeistert davon, wie viele Eindrücke wir in so kurzer Zeit sammeln, wie viele Erfahrungen wir machen und wie viele tolle Menschen wir kennen lernen konnten, und freuen uns auf das alles, was noch vor uns liegt.

Litauen wird uns mit den starrenden und winkenden Menschen, den tollen Camping Spots am Wasser, dem Gegenwind, aber vor allem mit dem Abend, den wir in Kaunas bei Paulius und Lina verbringen konnten, in Erinnerung bleiben.

Ein paar Daten

  • Kilometerstand*: 4.128 km
  • Strecke (grob): Joniškis – Šiauliai – Kaunas – Marijampole
  • Übernachtungen: 6 x Zelt (davon 1 x im Garten von Lina und Paulius)
  • Zeitraum: 30. August – 5. September 2019

* am Ende dieser Etappe

In eigener Sache

Wie ihr vielleicht wisst, finanzieren wir unsere Fahrradweltreise komplett selbst und haben keinen großen Sponsor, der uns versorgt. Wir haben einen Betrag gespart, mit dem wir erstmal eine Weile leben können. Dennoch werden wir bald versuchen, über unseren Blog einige Einnahmen zu generieren, um die Website am Laufen zu halten und einige Kosten zu decken, die auf der Reise anfallen. Erfahrungen anderer Reisender zeigen, dass man durchschnittlich mit etwa zehn Euro pro Person und Tag rechnen kann, womit dann neben der Verpflegung auch Anschaffungen, Reparaturen, Visa etc. abgedeckt sind. Falls ihr Lust habt, uns dabei zu unterstützen, könnt ihr ganz einfach über [diesen Link] einen selbst bestimmten Betrag per Paypal an uns senden. Wir freuen uns über jeden Euro!

Von Anika

Irgendwas mit Fahrradfahren.

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