Gleich zu Beginn unserer Zeit in Baku lernen wir einige andere deutsche Radfahrer kennen, mit denen wir ein Schicksal teilen. Auch sie wollten mit der Fähre über das Kaspische Meer nach Kasachstan fahren und sind jetzt in der Stadt gestrandet. Unsere Leidensgenossen sind Henrik und Finn, zwei Brüder aus Berlin, Constantin aus Bayern und Chris, den wir in Tiflis kennengelernt hatten, der aber als erster Mitte März zurück nach Deutschland reist.
Optimistisch im März
Wir ziehen relativ schnell zu Henrik, Finn und Constantin, die in einem Apart Hotel mit Blick auf die Altstadt wohnen und noch ein paar Betten in ihrem Apartment für uns frei haben. Wir alle sind durchaus optimistisch, dass wir unsere Reise bald fortsetzen können und sammeln im Eiltempo alle Unterlagen zusammen, die wir für ein Russland-Visum benötigen. Obwohl wir sogar eine Einladung von einer Reiseagentur besorgen können, die für die Beantragung eines dreimonatigen Business-Visums benötigt wird, wird unser Antrag von einem Herrn an der Tür abgelehnt, noch bevor wir die russische Botschaft überhaupt betreten. Damit gibt es für uns auf dem Landweg erstmal definitiv kein Weiterkommen, zumal Russland am nächsten Tag auch schon seine Grenzen schließt.
Es fühlt sich fast an wie eine Entschädigung für unsere zerplatzten Pläne, dass uns ein Mann, mit dem Henrik und Finn über eine zweistellige Anzahl von Ecken in Verbindung gebracht werden können, nach unserem Besuch in der Botschaft erst zum Frühstück und später in sein Hotel einlädt. Wir werden von einem privaten Fahrer abgeholt, im Hotel im Küstenort Mardakan mit mehreren Gängen und einer Flasche Wodka verköstigt und bekommen anschließend eine Führung über die Anlage vom Chef persönlich. Am Ende stellt man uns die Frage, ob wir für diese Nacht lieber die King’s Suite wollen oder zwei der Villen auf dem Hotelgelände. Von so viel Gastfreundschaft eines völlig Fremden sind wir alle erstmal mächtig überrumpelt, dafür aber umso gerührter als wir am nächsten Tag vom Fahrer wieder zurück in die Stadt gebracht worden sind.
In unseren ersten Tagen in Baku ist von Quarantäne-Maßnahme oder anderen Einschränkungen keine Rede, später sollen dann die verschiedenen Bezirke des Landes voneinander isoliert werden, um eine Ausbreitung des Virus’ möglichst früh zu unterbinden. Bevor die Verbindungsstraßen zwischen der Region Baku und dem Rest des Landes gesperrt werden, wollen wir zu fünft einen Ausflug in die Berge unternehmen, weil das Fahrradfahren in der nächsten Zeit erstmal nicht mehr möglich sein wird.
Für uns beide endet dieser Ausflug nach etwa dreißig Kilometern mit einem Sturz auf die Straße und einer böse blutenden Wunde unter Denis’ rechtem Knie. Wie so oft auf dieser Reise haben wir auch hier mal wieder großes Glück, denn es ist sofort Polizei zur Stelle, die uns einen Krankenwagen ruft. Außerdem hält ein Auto auf dem Seitenstreifen, in dem zufällig eine Ärztin sitzt, die deutsch spricht und uns beim Übersetzen hilft als der Krankenwagen eintrifft.
Denis’ Bein ist glücklicherweise nicht gebrochen, muss aber mit einigen Stichen genäht werden. Dazu wird er in eine Einrichtung gebracht, die ihn eher an eine Metzgerei als an ein Krankenhaus erinnert und von der man sich erzählt, dass fast jeder stirbt, der dorthin kommt. Um der Metzgerei-Atmosphäre zu entgehen, finden wir für die nötigen Nachbehandlungen dann ein Krankenhaus, das auch als solches erkennbar ist und die Wunde zufriedenstellend behandelt. Zufälligerweise arbeitet dort ein Arzt, der deutsch spricht. [Unter Ärzten ist die deutsche Sprache hier sehr verbreitet, weil viele von ihnen auf eine Anstellung in Deutschland hoffen.]
Beim Abtransport von Fahrrädern und Taschen vom Umfallort helfen uns ebenfalls Kontakte von Henrik und Finn, die nicht immer die naheliegendste, aber doch eine machbare Lösung für uns finden.
Henrik, Finn und Constantin setzen den Ausflug fort und kommen am nächsten Tag mit der Nachricht wieder, dass Henrik und Finn auch nach Hause fliegen wollen. Sie haben sowieso nur eine begrenzte Zeit für ihre Reise und glauben nicht daran, dass sie in dieser Zeit noch weiterfahren können. Sie bekommen einen der letzten Flüge nach Europa, denn die internationalen Flugverbindungen werden Ende März auf unbestimmte Zeit eingestellt.
Produktiv im April
Damit sind wir dann nur noch zu dritt in unserem Apartment als die Maßnahmen auch in Aserbaidschan spürbar verschärft werden. Im Supermarkt müssen beim Betreten die Hände desinfiziert werden, manchmal wird die Temperatur gemessen, Abstandsregeln werden aber nicht umgesetzt. [Diese werden übrigens so gut wie nirgendwo ernst genommen, oft nicht mal beim Arzt.] Anders als in Deutschland herrscht kein Mangel an Klopapier im Supermarkt. Im Gegenteil: die Mitarbeiter sind immer sofort hinterher, alle Regale wieder aufzufüllen, um bloß nicht den Eindruck eines Mangels entstehen zu lassen.
Ab Anfang April dürfen wir das Haus nur noch für zwei Stunden am Tag zum Einkaufen verlassen und so lange wie notwendig, um zum Arzt zu gehen. Damit das kontrollierbar bleibt, müssen wir eine SMS an eine behördliche Nummer senden und bekommen anschließend eine Bestätigung als Antwort. Vom Arzt bekommt Denis ein Attest, dass er wirklich dort war und es länger gedauert hat.
Währenddessen gibt sich die Regierung Mühe, engagiert im Kampf gegen Corona zu wirken und lässt regelmäßig die Straßen desinfizieren.
In dieser Zeit sind wir ziemlich produktiv, lernen jeden Tag Russisch, machen Sport, schreiben am Blog und versuchen auch sonst das beste aus dieser Unterbrechnung zu machen. Die Maßnahmen sind erstmal bis Mai angekündigt und wir haben Hoffnung, dass wir dann tatsächlich wieder aufbrechen können.Wir glauben allerdings nicht, dass wir nach Kasachstan kommen, denn das Land hat komplette Städte abgeriegelt und alle Ausländer in ihre Heimat geschickt, weshalb wir eigentlich ganz froh sind, dass wir es nicht mehr dorthin geschafft haben.
Ende April müssen wir aus unserem Apart Hotel ausziehen, weil es vorübergehend geschlossen werden soll. Als Alternative bekommen wir eine Wohnung angeboten, die nicht ganz so exklusiv in der Innenstadt gelegen ist, aber alles hat, was wir brauchen. Wir ziehen dort zu dritt ein und sind weiterhin ziemlich produktiv. Die Miete zahlen wir erst monatlich, dann im Rhythmus von zwei Wochen, weil wir immer wieder hoffen, dass die Maßnahmen so weit gelockert werden, dass wir bald weiterfahren können.
Frei im Mai
Und tatsächlich werden Anfang Mai die meisten Geschäfte geöffnet und die Metro nimmt ihren Betrieb wieder auf. Ende Mai öffnen dazu auch wieder Restaurants und Parks und wir spekulieren darauf, dass wir uns zumindest bald in Aserbaidschan bewegen und Baku verlassen können.
Weil die meisten Menschen ihr Leben nun wieder leben wie vor Corona – ohne Masken, Abstände, mit Küsschen zur Begrüßung – schießen die Zahlen der Neuinfektionen schlagartig in die Höhe. Lagen sie im April bei dreißig bis fünfzig neuen Fällen pro Tag, liegen sie nun eher 300 bis 500. Bis in den Juli hinein werden sie auf fast 600 steigen. [Hier die exakten Zahlen.]
Wir lassen uns in dieser Zeit auch von der neugewonnenen Freiheit anstecken und unternehmen viele Ausflüge in die Innenstadt, an den Strand, auf den Basar, fahren Bus, gehen ins Restaurant und bewegen uns relativ unvorsichtig durch die Stadt.
An einem Tag Ende Mai wird aus unserer Dreier-WG eine Vierer-WG, als Constantin ein kleines Kätzchen vor dem Haus findet, das ganz allein, hungrig und sehr zutraulich ist. Wir hatten vorher schon ein paar Mal darüber gesprochen, dass es cool wäre, eine Katze im Haus zu haben, weshalb wir uns alle drei schnell einig sind, dass wir den kleinen Kater bei uns aufnehmen. Wir nennen ihn Neo und er wird ganz schnell ein wichtiger Teil unserer Tage.
Außerdem treffen wir uns mit einigen Leuten, die wir auf verschiedenen Wegen kennengelernt haben. Da ist Movsum, der eine deutsche Sprachschule führt, oder Tofiq, der erste, der in Aserbaidschan ein Fahrradkuriergeschäft gegründet hat, oder Vusala von der staatlichen Tourismusagentur, die sich unter anderem mit Fahrradtourismus beschäftigt und uns immer wieder Ausflugs- und Reisetipps gibt, wobei sie die Einschränkungen wegen des Virus‘ regelmäßig vergisst. Es ist eine tolle Zeit in Baku, in der wir viel Spaß haben und wirklich optimistisch sind, dass wir im Juli zurück nach Georgien fahren und uns dort frei bewegen können.
Genervt im Juni
Und dann kommt ganz unerwartet der zweite Lockdown. Es ist logisch, dass die Maßnahmen wieder verschärft werden müssen, denn die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Nicht ganz so logisch finden wir, dass zwei Wochenenden hintereinander ein kompletter Lockdown über der Stadt verhängt wird, während an allen anderen Wochentagen das Leben seinen gewohnten Lauf nimmt. Am Wochenende darf niemand das Haus verlassen, selbst Supermärkte sind geschlossen, es ist idyllisch ruhig im Viertel und auf der chronisch verstopften Hauptstraße, an der wir wohnen.
Neo ist in dieser Zeit ein guter Stimmungsaufheller, denn er interessiert sich nicht für Lockdowns und Reisepläne, sondern will spielen, essen, kuscheln und schlafen. Weil uns mittlerweile die Motivation fürs Russisch lernen und Sport machen abhanden gekommen ist, nehmen wir diese Ablenkung natürlich gern an.
Den ersten Jahrestag unserer Reise, den 18. Juni, verbringen wir mit einem Ausflug an den Strand von Sumqayit an der Nordseite der Halbinsel, auf der Baku liegt. Nachdem die Fahrräder in unserem Schlafzimmer stehend fast eingerostet sind, ist es schön, mal wieder einen Tag auf dem Fahrrad zu verbringen und am Meer zu sitzen.
Genau am Abend dieses Tages kommt die Meldung, dass die Maßnahmen wieder verschärft werden und demnächst wieder SMS geschrieben werden müssen, um das Haus zu verlassen. Die Grenzen bleiben bis August geschlossen, Baku und Umland vom Rest des Landes isoliert. Damit ist die ganze gute Laune, die wir uns an diesem Tag erarbeitet haben, auf einen Schlag dahin.
Und in den nächsten Tagen ist es dann soweit, dass wir einfach keinen Bock mehr haben. Wir sehen, wie sich die Lage in Europa entspannt, weil sich die Leute an die Regeln halten. Und wir sehen, wie sich die Lage in Aserbaidschan verschärft, weil sich kein Mensch an die Regeln hält. Trotz der neuen Maßnahmen sind weiterhin die Straßen voll, weil es keine Kontrollen gibt und sich daher niemand an irgendwas zu halten scheint, während wir in unserer Wohnung vor Langeweile und Hitze eingehen.
Einige Leute – vor allem die ältere, gefährdete Generation – erzählen uns vollkommen überzeugt, dass die Aserbaidschaner nicht krank werden, weil sie als Kinder in der Sowjetunion geimpft worden sind. Andere glauben gar nicht erst daran, dass es Corona überhaupt gibt. Und das ist ein Dilemma eines Staates, in dem die Menschen – zurecht! – weder der Regierung noch den Medien vertrauen. Man glaubt einfach nicht, was man hört, auch wenn es ausnahmsweise mal stimmt und wichtig wäre.
Erst nach einigen Tagen werden die Kontrollen wieder verstärkt, sodass sich wieder mehr Menschen an die Regeln halten. Bis dahin musste der Betrieb der Metro wieder komplett eingestellt werden, Busse fahren nur noch an Wochentagen, Unternehmen dürfen nur mit der Hälfte der Angestellten arbeiten und wer einen Supermarkt betreten will, braucht eine Maske und bekommt die Temperatur gemessen.
Abschied im Juli
Als der Flugverkehr mit einigen Sonderflügen nach Istanbul wieder aufgenommen wird, buchen wir uns einen Flug am 9. Juli und beginnen, uns langsam für die Rückreise nach Europa fertig zu machen. Wir haben eingesehen, dass wir auf absehbare Zeit nicht weiter vorankommen werden, wollen unsere Reise aber trotzdem nicht abbrechen. Deswegen soll es erstmal für eine Zeit in Europa weitergehen.
Für Neo finden wir eine neue Familie mit drei Kindern, die sich großartig um ihn kümmern wird. Der Vater ist Koch in einem großen Hotel der Stadt und fragt schnell, ob er auch Selbstgekochtes essen würde. Wir sind natürlich sehr traurig, dass wir ihn zurück lassen müssen – tatsächlich hatten wir anfangs sogar überlegt, ob wir ihn auf dem Fahrrad mitnehmen könnten -, sind aber überglücklich, dass gut für ihn gesorgt wird und er ein entspanntes Leben in einer riesigen Wohnung führen wird.
Und so verlassen wir die Stadt fast vier Monate, nachdem wir sie erreicht hatten mit einem Flug nach Istanbul, den wir nur mit einem negativen Corona-Test und durch einen Desinfektionstunnel erreichen können.
Es war eine spannende Erfahrung, eine Stadt auf diese Art und Weise kennenzulernen und auf eine Art sogar ein wenig heimisch zu werden, neue Leute zu treffen und neue Freunde zu finden. Wir wissen jetzt jedenfalls, dass Baku mehr ist als die sterile Glitzerwelt, die einem auf den ersten Blick begrüßt, und dass die Menschen hier genauso herzlich und freundlich sind wie im Rest des Landes. Und glücklicherweise etwas weniger neugierig.
Çox sağ ol, Baku!
Ein paar Daten und Links
- Kilometerstand: 11.335 km
- Strecke: Baku
- Übernachtungen: 2 x Hostel, 116 x Apartment
- Zeitraum: 14. März – 9. Juli 2020
- Henrik und Finn: Blog, Instagram und Youtube
- Constantin: Instagram
- Tofiqs Velo Kuryer
In eigener Sache
Wie du vielleicht weißt, finanzieren wir unsere Fahrradweltreise komplett selbst und haben keinen großen Sponsor, der uns versorgt. Wir haben einen Betrag gespart, mit dem wir erstmal eine Weile leben können. Dennoch wollen wir versuchen, über unseren Blog einige Einnahmen zu generieren, um die Website am Laufen zu halten und einige Kosten zu decken, die auf der Reise anfallen. Erfahrungen zeigen, dass man durchschnittlich mit etwa zehn Euro pro Person und Tag rechnen kann, womit dann neben der Verpflegung auch Anschaffungen, Reparaturen, Visa etc. abgedeckt sind. Falls du Lust hast, uns dabei zu unterstützen, kannst du ganz einfach über [diesen Link] einen selbst bestimmten Betrag per Paypal an uns senden.
Du kannst uns natürlich auch auf anderem Wege unterstützen: folge uns auf Facebook oder Instagram, teile und like fleißig unsere Beiträge, erzähle deinen Freunden, deiner Oma und deinem Zahnarzt von uns oder lass dich inspirieren und nimm selbst das Fahrrad statt dem Auto. Bevor wir uns auf diese Reise begeben haben, sind wir auch kaum Fahrrad gefahren.
Wir freuen uns über jeden Like, jeden Follower und jeden Euro!