Aserbaidschan I – Über Neugier, Ladas und zerrissene Unterhosen

Im Nachhinein betrachtet ist unser Grenzübertritt nach Aserbaidschan schon ziemlich bezeichnend für das, was dort auf uns wartet. Zwischen den wartenden Fahrzeugen läuft ein Mann im Ganzkörperanzug umher, der einen Kanister Desinfektionsmittel auf dem Rücken trägt und den Autos damit die Reifen einsprüht. Außerdem möchte man gern wissen, ob wir in China waren, und misst uns zusammen etwa acht bis zehn Mal die Körpertemperatur. Dabei allerdings haben wir nicht das Gefühl, dass die jungen Grenzbeamten genau wüssten, wie sie die Messgeräte bedienen müssen, geschweige denn was zu tun wäre, wenn wirklich mal jemand erhöhte Temperatur hätte. Dennoch können wir es jetzt nicht mehr leugnen: Corona ist auch auf unserer Reise angekommen.

Koran und Ladas

Hinter der Grenze ist davon allerdings erstmal nicht mehr viel zu merken, das Leben wirkt hier nicht im Geringsten eingeschränkt. Abstandsregeln sind gänzlich unbekannt und an Masken ist gar nicht erst zu denken. Stattdessen trifft man sich in den engen Teestuben oder drängelt sich in irgendeine Reihe vor der Bank oder Post.

In der ersten Stadt versorgen wir uns mit Geld, Lebensmitteln und einer SIM-Karte und suchen uns hinter dem Ortsausgang gleich einen Camping Spot. Wir übernachten auf einer Wiese neben einem leer stehenden Bauernhof, wo wir am nächsten Morgen Besuch von zwei wilden Pferden und von Ahmed bekommen, der uns eine Menge Dinge auf Russisch erzählt und Denis das Versprechen abnimmt, dass er den Koran liest, sobald er wieder Zuhause ist.

Auf der Straße werden uns ziemlich schnell die Unterschiede zu Georgien bewusst. Erstmal wirkt Aserbaidschan so viel bunter, was vor allem an den Ladas liegt, die das Straßenbild prägen und in allen Farben des Regenbogens leuchten. Außerdem tragen die Menschen hier weniger skeptische Gesichtsausdrücke, winken öfter zurück, laden uns zum Tee ein oder halten uns irgendwo am Straßenrand an, um eine Selfie-Session zu veranstalten, wie eine Gruppe von Frauen, die den Grünstreifen pflegt.

Duschen und Kopfsteinpflaster

Trotzdem kommen wir ganz gut voran, denn die Straße ist einwandfrei asphaltiert, die Anstiege halten sich in Grenzen und das Wetter ist super. Links von uns befinden sich die Schneegipfel des Großen Kaukasus und rechts das weite Tal mit seinen Feldern und den breiten Flussbetten, die meistens kaum Wasser führen, weil die Schneeschmelze in den Bergen noch nicht eingesetzt hat.

Die Gegend ist eigentlich nicht sonderlich dicht besiedelt, aber die kleinen Orte sind dermaßen langgezogen, dass sie alle ineinander überzugehen scheinen, was uns die Schlafplatzsuche mal wieder ein wenig kompliziert macht. Dazu kommt, dass es hier Mode ist, sein Feld komplett zu umzäunen. Der Grund dafür sind sicherlich die freilaufenden Kühe und Schafe, die sonst wahrscheinlich die gesamte Ernte wegfressen würden. Nach einer gefühlten Ewigkeit finden wir eine abgelegene Feldzufahrt, auf der wir sogar genügend Privatsphäre haben, um am nächsten Morgen eine Dusche zu nehmen.

Nachdem die Haare wieder getrocknet sind, wollen wir in die Stadt Şəki fahren, in der sich der Khanspalast befindet. [Der Buchstabe ə ist übrigens genau das, wonach er aussieht: Eine Mischung aus a und e, meistens wie e oder ä ausgesprochen, manchmal auch wie a. Das Ş ist das Sch des Ostens, sodass man diese Stadt Scheki nennt.] Unsere Navigationsapp bestimmt uns dafür einen Weg durch die Stadt, der über bestes Kopfsteinpflaster einigermaßen stark bergauf geht, sodass wir schieben müssen. Dass es gar nicht viel weiter rechts noch eine asphaltierte Straße gibt, verschweigt die App.

Wiese und Würstchen

Der Palast und das umgebende Gelände sind ganz nett anzusehen, aber viel interessanter ist mal wieder eine Begegnung, die wir auf dem Parkplatz davor machen. Dort steht ein Wohnmobil mit deutschem Kennzeichen, in dem eine sechsköpfige Familie reist, mit der wir schnell ins Gespräch kommen und uns für den Abend verabreden.

Wir finden gemeinsam eine Wiese am Rand eines Ortes hinter Şəki, die mehr als genug Platz für ein Wohnmobil, ein Zelt, acht Menschen und einen Hund bietet. Wir sind hier zwar nicht ganz sichtgeschützt – also eigentlich gar nicht – aber dieser Ort lädt uns geradezu zum Campen ein. Und spätestens als ein paar junge Männer zu uns kommen und fragen, ob wir etwas benötigen oder Tee möchten, machen wir uns um den fehlenden Sichtschutz keine Sorgen mehr.

Unsere Nachbarn im Wohnmobil sind Maria und Volkan, ihre Kinder Zara, Elif, Enisa und Zelina und der Familienhund Myla [Wir hoffen inständig, dass wir die Namen nicht allzu falsch geschrieben haben.], die schon seit einem halben Jahr in Europa und der Kaukasusregion unterwegs sind und noch ein halbes Jahr Zeit haben, bevor Zara wieder in die Schule muss. Wir verbringen einen tollen Abend miteinander, an dem das erste Lagerfeuer seit einer gefühlten Ewigkeit brennt, Würstchen auf dem Feuer gegrillt werden und wir uns über unsere Erlebnisse und Gedanken austauschen. 

Schafe und Soldaten

Nachdem wir noch einen gemeinsamen Vormittag auf unserer Wiese verbracht haben, geht es für uns dann doch wieder auf die Straße, die uns den Tag mit langen flachen Anstiegen und einer steifen Brise von vorne nicht ganz leicht macht. Nebenbei wird eine ganze Menge gegrüßt und gehupt, teilweise doch etwas skeptisch geschaut oder schnell weggeguckt.

Als wir gegen Abend keine Lust mehr haben, weiter gegen den Wind zu fahren, finden wir einen großartigen Camping Spot an einem Fluss mit tollem Ausblick und Feuerholz. Am nächsten Morgen bekommen wir Besuch von einigen Schaf- und Kuhherden, die von ihren Hirten zum Grasen gebracht werden. Hier ist man offenbar schon an Camper gewöhnt, dass keiner überrascht scheint, uns hier zu sehen.

Später an diesem Tag haben wir einen Termin im Stadion von Qəbələ. [Weil das Q im Aserbaidschanischen als G genutzt wird, heißt diese Stadt Gabala.] In der Premyer Liqasi spielen dort am Nachmittag der heimische Qəbələ FK, der sich seit der Saison 2014/15 in jedem Jahr für die Europa League qualifiziert hat, und Sumqayıt PFK gegeneinander. Es ist das Spiel des Achten gegen den Vierten in der Liga, die aus acht Mannschaften besteht.

Nachdem wir am Gästeblock weggeschickt worden sind, parken wir die Fahrräder direkt vor dem Haupteingang und werden gleich vom örtlichen Snackverkäufer in ein Fachgespräch über die taktischen Raffinessen des deutschen Fußballs verwickelt. “Klose” – “Neuer” – “Ballack” – “Müller” Als der Name “Merkel” fällt, wird es uns zu politisch und wir verschwinden ins Stadion. Der Eintritt ist kostenlos und die Militärs, die den Eingang bewachen, lassen uns ohne weitere Kontrolle rein.

Im Stadion befinden sich etwa so viele Soldaten wie Zuschauer, einen privaten Sicherheitsdienst gibt es naturgemäß nicht. Rings um das Spielfeld herum ist die erste Reihe im Abstand von jeweils einigen Sitzen zueinander komplett mit Soldaten bestückt – und zwar auch in den Blöcken, in denen gar keine Zuschauer sitzen. Davor steht jeweils ein weiterer Soldat mit Blick in Richtung Tribüne. Und damit niemandem langweilig wird, gibt es in der Halbzeit eine Showeinlage aus verschiedenen Dauerlaufeinheiten der Soldaten um das Spielfeld herum.

Das Spiel ist der erwartete Klassiker, das der Gastgeber mit 5:0 für sich entscheidet. Es ist stark auf das Prinzip Zufall ausgelegt und die angreifende Mannschaft befindet sich stets mit allen Feldspielern in der gegnerischen Hälfte, was das Spiel zumindest schnell macht. Die Fanblöcke machen immer mal wieder Stimmung, die Gästefans sind zahlreich und anfänglich sehr laut, verstummen aber mit jedem Gegentor etwas mehr. Und gegen Ende kommt sogar noch eine zweite Frau ins Stadion.

Ruhe und Neugier

Am nächsten Tag biegen wir scharf in Richtung Süden ab, um uns auch mal abseits der Hauptstraßen etwas umzuschauen. Wir folgen einer großartigen Strecke durch Wälder, Felder und kleine Dörfer. Die Wege sind nicht immer befestigt, dafür bekommen wir aber tolle Blicke auf die Berge und das Tal und ganz viel Ruhe.

In den Dörfern können wir nicht allzu weit fahren, ohne sofort von irgendwem bemerkt zu werden. In den Läden sind wir Hauptattraktion und Gesprächsthema zugleich. Einmal folgen uns zwei Männer von der Straße in einen Laden und verlassen ihn direkt nach uns wieder, ohne etwas gekauft zu haben. Beantworten wir einer Person die Frage, woher wir kommen, weiß gleich das ganze Dorf Bescheid. 

Wasser und Unterhosen

Am Nachmittag erreichen wir einen Fluss, der durch einen eindrucksvollen Canyon fließt. Wir wussten bereits vorher, dass wir dort keine Brücke vorfinden würden, die die beiden Ufer miteinander verbindet. Zwei von drei Kartendiensten, die wir benutzen, zeigten uns allerdings an, dass es trotzdem einen Weg auf die andere Seite gibt. Und nachdem wir schon so viele fast leere Flussbetten in Aserbaidschan gesehen haben, sind wir uns im Vorfeld ziemlich sicher, dass wir rüber kommen.

Als wir dann unten am Ufer stehen und feststellen, dass das Wasser doch eine relativ hohe Geschwindigkeit aufweist, sind wir uns dann nicht mehr ganz so sicher. Wir überlegen lange, an welcher Stelle wir es probieren wollen und wählen einen Punkt, an dem sich der Fluss in drei Arme teilt.

Im ersten Arm ist das Wasser knöcheltief und nicht stark genug, uns aus der Bahn zu werfen. Trotzdem ist Vorsicht geboten, denn das gesamte Flussbett besteht aus losen Steinen, nicht immer den besten Halt bieten. Vor allem, wenn man barfuß unterwegs ist.

Der zweite Arm ist schon etwas tiefer, sodass die Taschen am Vorderrad abgenommen werden müssen, weil sie ziemlich niedrig hängen. Wir müssen uns schon etwas stärker gegen die Strömung stämmen, aber mit etwas Vorsicht kommen wir gut auf die Sandbank zwischen dem mittleren und dem letzten Arm.

In diesem letzten Arm ist das Wasser deutlich tiefer und fließt merklich schneller als in den anderen beiden. Nachdem wir alle Taschen von den Rädern genommen haben, um das Gewicht zu reduzieren, stürzt sich Denis mit seinem Fahrrad in die Fluten. Mit jedem Schritt wird das Wasser schneller, das Flussbett tiefer, der Boden steiniger und am Ende will das Fahrrad ja auch noch auf das andere Ufer gehoben werden.

Als das geschafft ist, stellt sich eine Frage, die uns erst nebensächlich erscheint, aber doch alles entscheidend ist: Wie sollen die Taschen rüber kommen? Auf dem Fahrrad konnte sich Denis bei der Überquerung abstützen, um gegen die Strömung zu arbeiten. Mit den Taschen im Arm geht das nicht. Zum Werfen ist der Fluss zu breit und außerdem wollen wir nicht riskieren, eine Tasche zu verlieren. Denn alles, was im Fluss landet, wird so schnell weggespült, dass wir es nicht wieder einfangen könnten.

Weil uns das Risiko zu hoch erscheint und wir auch keine Möglichkeit finden, dieses Problem zu lösen, entscheiden wir, den Versuch abzubrechen und Denis’ Fahrrad zurück zu holen. Dabei verliert Denis auf halbem Wege durch den Fluss einmal kurz den Halt, kann das Fahrrad aber sichern, indem er elegant und grazil auf selbigem landet. Glücklicherweise tragen weder Denis noch sein Fahrrad bleibende Schäden davon. Es gehen lediglich eine Trinkflasche und ein Spannband verloren und die diensthabende Unterhose muss anschließend in Frührente geschickt werden.

Ausblick und Neugier

Wir schlagen das Zelt anschließend direkt am Fluss auf und fahren am nächsten Tag ein Stück zurück durch die Dörfer und weiter auf eine größere Straße in Richtung Süden. Dort herrscht zwar deutlich mehr Verkehr, aber der Ausblick auf zwei verschiedene Canyons links und rechts der Straße geht schon klar. Weil wir Aserbaidschan gedanklich in die Schublade “Öl und Wüste” abgelegt haben und ein Besuch in Baku vor zwei Jahren vor allem heiß und marmorlastig in Erinnerung blieb, sind wir ein wenig überrascht und sehr beeindruckt von der landschaftlichen Vielfalt, die wir hier erleben.

In dieser Region Aserbaidschans ist es so, dass sofort mindestens fünf Menschen ankommen, wenn wir irgendwo stehen bleiben, uns oft aber nicht ansprechen, sondern einfach glotzen. Im Supermarkt wird Anika an diesem Tag von vier jungen Männern verfolgt, die einfach sonst nichts anderes mit ihrer Zeit anzufangen wissen und erst dann Abstand nehmen, nachdem sie direkt darauf hingewiesen wurden, dass ihr Verhalten durchaus als aufdringlich empfunden werden könnte. 

Wir campen am Abend auf einem großen, brachliegenden Feld, das von einem weißen Pulver überzogen ist. Woraus dieses Pulver besteht – Salz, Kalk oder Koks – wissen wir nicht ganz so genau, aber es gibt der Umgebung einen interessanten Hauch von Mondlandschaft.

Der nächste Tag ist grau und ungemütlich, weshalb wir kaum Pausen machen und versuchen, in Bewegung zu bleiben. Die Landschaft ist im Großen und Ganzen sehr braun und karg. Hin und wieder mal ist aber schon der Frühling in den Bäumen zu erahnen und das macht uns nach dem kalten und gefühlt sehr langen Winter glücklich.

Hilfsbereitschaft und Neugier

Am Abend fahren wir in die Stadt Zərdab und halten kurz am ersten großen Kreisverkehr, um uns zu orientieren. Wie immer sind wir direkt von gefühlten hundert Leuten umgeben, die hier tausend Fragen an uns haben. Da die Leute in der Regel genauso hilfsbereit wie neugierig sind, stellen wir mal eine Gegenfrage, um zu erfahren, ob es in der Stadt ein Hotel gibt. Ein Taxifahrer erklärt sich bereit, uns den Weg zu zeigen und fährt langsam voraus, sodass wir ihm folgen können. Zwischendurch sind wir uns sicher, ihn im Gewirr von Ladas aus den Augen verloren zu haben und einem falschen Taxi zu folgen, aber am Ende kommen wir doch am Hotel der Stadt an.

Eigentlich wollen wir gar nicht ins Hotel, aber in Aserbaidschan ist es so, dass sich jeder Tourist, der länger als zwei Wochen im Land bleibt, bei der Migrationsbehörde registrieren muss. Wer das nicht macht, bekommt Ärger und eine Geldstrafe bei der Ausreise. Sobald man aber in einer gewerblichen Unterkunft übernachtet, ist diese verpflichtet, die Registrierung zu übernehmen. So wollen wir also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und uns registrieren lassen und gleichzeitig Strom abzapfen, duschen und Wäsche machen. [Die zweite Fliege schlagen wir tatsächlich, aber wir sind uns am Ende ziemlich sicher, dass uns der Hotelier nicht registriert hat.]

Weil es im Hotel kein Frühstück gibt und wir selbst keine Lebensmittel mehr dabei haben, führt uns der erste Weg am nächsten Morgen zu einem Supermarkt, wo wir wie gewohnt wieder von Leuten umzingelt sind, die uns immer näher auf die Pelle rücken, ganz offensichtlich über uns reden [Alle wissen, dass wir aus Deutschland kommen, ohne dass wir es hier jemandem erzählt haben.], uns dabei aber nicht ansprechen oder Grüße erwidern. Es ist eine äußerst explosive Mischung: die Männer haben absolut nichts zu tun, sind neugierig ohne Ende und haben kein Gefühl für Distanz. Und wir haben noch nicht gefrühstückt.

Nachdem wir sogar noch einen Typen abschütteln mussten, der uns mit dem Fahrrad verfolgt und dabei gefilmt hat, suchen wir uns einen sichtgeschützten Platz neben der Straße und müssen uns erstmal beruhigen. Wir müssen uns daran erinnern, dass andere Kulturen halt andere Verhaltensweisen haben und wir unter anderem deswegen auf dieser Reise sind. Dass uns das aber ausgerechnet vor dem Frühstück auf eine derart unverfälschte Weise demonstriert wird, ist natürlich ein wirklich ungünstiger Zeitpunkt.

LKW und Luftpumpen

Wir verlassen im Laufe des Tages den Asphalt und finden uns auf einer breiten Trasse von festgefahrenem Sand wieder, auf der gerade eine große Straße in Richtung Baku gebaut wird. Dass hier gerade Bauarbeiten stattfinden, ist natürlich kein Grund, die Straße für den Durchgangsverkehr zu sperren.

Später erreichen wir wieder die Zivilisation, fahren durch ein paar Dörfer voller Kühe und müssen wie so oft dieser Tag eine meist nonverbal gestellte Frage beantworten. In Aserbaidschan gibt es eine Geste, bei der die Hand mit der offenen Handfläche nach oben vor und zurück bewegt wird. Diese Geste bedeutet “Wohin willst du denn?” und jeder versteht sie. Weil die meisten Leute dabei allerdings einen Gesichtsausdruck an den Tag legen, der eher darauf hindeutet, dass sie eigentlich fragen wollen “Was stimmt eigentlich mit dir nicht?”, haben wir angefangen, diese Geste einfach zu beantworten, in dem wir sie kopieren. Im Vorbeifahren ließen sich beide Fragen sowieso nicht abschließend klären.

Am Nachmittag müssen wir eine längere Zwangspause einlegen, weil Denis’ Hinterrad Luft verliert. Unsere Luftpumpe zieht mittlerweile nicht mehr nur selbst irgendwo Luft, sondern hat noch ein paar weitere Wehwehchen. Zusätzlich funktioniert jetzt auch die Druckanzeige nicht mehr und ab einem bestimmten Druck kommt die Luft durchs Ventil zurück in die Pumpe. Die beiden kleinen Kinder, die uns zwischenzeitlich beobachtet hatten, sind mittlerweile mit einem toten Vogel in der Hand nach Hause gegangen. Und ansonsten ist hier niemand zu sehen.

Als dann nach einer Stunde doch irgendwie genügend Luft im Reifen ist, fahren wir auf einen Damm im Naturschutzgebiet, der durch ein großes Moor führt, und finden schließlich eine gute Stelle zum Übernachten. 

Horrorfilme und Schlaglöcher

Sobald die Sonne untergegangen ist, beginnen um uns herum die Schakale zu heulen, woran wir uns in den letzten Wochen bereits gewöhnt haben. Neu für uns ist allerdings, dass uns nachts einer am Zelt besucht, unseren Müll [den wir seit einem Vorfall mit einer Maus in der Slowakei draußen lagern] nach etwas Essbarem durchsucht und sogar den noch nicht abgewaschenen Nudeltopf vom Vorabend verschleppt und ausleckt.

Am nächsten Morgen herrscht Horrorfilmstimmung im Moor, denn es hängt es eine richtig dichte Nebeldecke über uns und die tausend Frösche, die am Abend noch ein ausführliches Konzert gegeben haben, sind verstummt.

Als wir gegen Mittag aufbrechen, leistet die Sonne wieder volle Arbeit, sodass der Blick auf das Moor, das später zum See wird, wieder frei ist. Der Damm, auf dem wir weiterhin unterwegs sind, ist ungefähr vierzig Kilometer lang und besteht zu etwa vierzig Prozent aus Schlaglöchern, die von Kuhfüßen verursacht wurden. Die anderen sechzig Prozent sind Spurrillen in Form von Autoreifen.

Gegen Abend erreichen wir die Stadt Sabirabad, in der wir sofort bei der Ankunft umzingelt werden und beim Tee Fragen zu unseren Handys beantworten und Kaufangebote ausschlagen müssen.

Hinter der Stadt gelangen wir auf den Highway, der uns in ein paar Tagen bis nach Ələt [Alat] führen soll, wo wir auf die Fähre nach Kasachstan gehen wollen. Eigentlich führt der Highway noch weiter bis nach Baku, aber wir wollen die Hauptstadt auslassen, weil wir sie bereits von einer früheren Reise kennen und sowieso nicht gern in der Stadt Fahrradfahren.

Banken und Basare

Am nächsten Tag wollen wir in der Stadt Şiran kurz eine Bank suchen, in der wir unsere übrig gebliebenen Georgischen Lari in Aserbaidschanische Manat umtauschen können. Wir haben kaum noch aserbaidschanisches Bargeld, wollen aber auch kein Geld mehr vom Konto holen, weil unsere Bank einen Mindestbetrag von 50€ verlangt, der das übersteigt, was wir für die wenigen Tage bis zur Überfahrt nach Kasachstan noch benötigen. [Wir haben sehr gelacht als wir diese Begründung drei Monate später in Baku in unserem Tagebuch gelesen haben.]

In Şiran ist das dann so: Bank Nummer eins tauscht gar kein Geld trotz der prominenten Western Union-Werbung an der Frontscheibe. In Bank Nummer zwei sagt man uns, dass der Wechselschalter gerade in der Mittagspause ist, während an ebenjenem Wechselschalter gerade jemand bedient wird. Wir könnten aber nach der Mittagspause wieder kommen, die wäre in wenigen Stunden vorbei. Bank Nummer drei ist so überfüllt, dass wir wahrscheinlich bis nach der Mittagspause von Bank Nummer zwei mit dem Warten beschäftigt wären. Auf Nachfrage erfahren wir, dass man hier sowieso keine Lari tauschen würde. 

Weil wir jetzt auch nicht mehr weiter wissen, setzen wir uns erstmal auf eine Bank vor der Bank und essen eine Kleinigkeit. Nach ein paar Minuten gesellt sich ein Mitarbeiter von Bank Nummer drei zu uns, fragt, was wir genau tauschen wollen, telefoniert ein paar Mal und lässt uns am Telefon, von jemandem, der Englisch spricht, ausrichten, dass wir ihm zum Basar folgen sollen. Der nette Herr fährt schließlich in seinem Mercedes langsam vor und wir folgen ihm einmal quer durch die Stadt. In Aserbaidschan gibt es halt immer eine Lösung, auch wenn sie manchmal anders ausfällt, als man denkt.

Corona und Kasachstan

Während Denis mit dem Herrn auf dem Basar verschwindet, nutzt Anika die Zeit, um bei der Fährgesellschaft anzurufen. Es ist nämlich so, dass die Fähre nach Kasachstan nicht nach einem festen Fahrplan verkehrt, sondern halt dann abfährt, wenn sie voll ist. Deshalb empfiehlt es sich, vorab im Ticket Office nachzufragen, wann mit der nächsten Abfahrt zu rechnen ist. Es kommt allerdings gar nicht dazu, dass wir diese Information erhalten, denn der Mann an der anderen Leitung teilt uns mit, dass Kasachstan momentan keine deutschen Staatsbürger ins Land lässt, weil in Deutschland gerade in Sachen Corona landunter ist.

Das stimmt nicht ganz, denn wer nachweisen kann, dass er sich mindestens dreißig Tage lang nicht in Deutschland aufgehalten hat, wird noch akzeptiert. Dennoch ist in diesem Fall keine Diskussion möglich. Der Mann am anderen Ende kann oder will diese Begründung und das Dokument des kasachischen Außenministeriums nicht verstehen und gibt uns daher nicht mal eine Auskunft über die nächste Fähre.

Das ist natürlich erstmal ein ziemlicher Stimmungsdämpfer, aber wir wollen am nächsten Tag einfach trotzdem zum Hafen fahren und versuchen, Fahrkarten zu kaufen. Vorher müssen wir uns erstmal vom Basargelände herunter kämpfen, denn wir sind natürlich wieder sofort umgeben von Leuten, die viele Fragen haben, glotzen und uns unsere Fahrräder abkaufen wollen. Einer bietet uns 500 Manat für eins, was etwa 260 Euro entspricht und für uns nicht nach dem bestmöglichen Angebot klingt.

Camping und Corona

Seitdem wir uns auf dem Highway befinden, ist die Gegend um uns herum zusehends flacher geworden. Der Verkehr ist natürlich wieder dichter und weil Sicherheitsgurte hier eher Empfehlung statt Pflicht sind, winken uns viele Leute, vor allem Kinder, im Vorbeifahren aus Heckscheibe zu.

Weil die Landschaft nun wieder sehr flach ist, müssen wir uns relativ weit von der Straße entfernen, um einen ruhigen Camping Spot zu finden. Zu diesem Zeitpunkt können wir uns noch nicht vorstellen, dass diese Nacht erstmal die letzte bis in den Juli hinein sein wird, in der wir im Zelt übernachten.

Beim Frühstück am nächsten Morgen erreicht uns die Nachricht, dass Georgien seine Grenzen geschlossen hat. Nicht dass wir es vorgehabt hätten, aber damit gibt es für uns erstmal keinen Weg zurück. 

Am Hafen von Ələt erfahren wir gegen Mittag, dass es für uns auch erstmal keinen Weg nach vorn gibt. Es ist nämlich mittlerweile so, dass Kasachstan nicht nur keine Deutschen mehr ins Land lässt, sondern einfach gar keine Passagiere mehr an Bord der Fähre akzeptiert. Wie lange diese Vorgabe gelten soll, kann uns leider niemand sagen. Das einzige, was Fakt ist, ist, dass wir nicht nach Kasachstan kommen und wohl umplanen müssen.

Meer und Stadt

Damit bleibt für uns an diesem Tag nur noch eine Möglichkeit: Baku. Weil der Wind sehr günstig steht und auch nur ein Berg auf dem Weg liegt, können wir die verbleibenden achtzig Kilometer in vier Stunden fahren. 

Wir legen nur eine kurze Pause zum Essen ein und eine weitere als wir den ersten begehbaren Strandabschnitt des Kaspischen Meeres entdecken. An den meisten Stellen ist das Meer nicht zugänglich, weil sich dort die Werksgelände der großen Ölfirmen oder die Wohnparks für deren Angestellte befinden. Dort, wo wir ans Meer kommen, ist es dann aber enttäuschend müllig und unschön.

Am frühen Abend erreichen wir Baku und fühlen uns als wären wir in einem ganz anderen Land angekommen, denn die Hauptstadt steht mit ihrem Marmor, den sauberen Straßen und den gläsernen Wolkenkratzern im krassen Kontrast zum Rest des Landes, der eher rustikal und flach bebaut ist.

Die Straßen sind schlagartig verstopft, wir können uns vor Gehupe kaum noch unterhalten und als wir unsere staubigen Fahrräder auf der Rolltreppe in eine mit Marmor verkleidete Straßenunterführung bringen, fühlen wir uns unter den ganzen fein gemachten Leuten irgendwie fehl am Platze.

Wir checken erstmal in ein kleines Hostel nahe der Altstadt ein, telefonieren mit Familie und Freunden in Deutschland und vertagen die Überlegungen zur Fortführung der Reise auf die nächsten Tage. In Deutschland wurden gerade Schulen und Vereinsleben stillgelegt, die Bundesliga ist unterbrochen und niemand weiß so richtig, wie man sich momentan am sinnvollsten verhält. In Aserbaidschan hingegen läuft das Leben komplett unbeeindruckt weiter. Die Schulen sind zwar schon seit den letzten Ferien nicht mehr geöffnet und die Feierlichkeiten zum Novruz Fest abgesagt, aber ansonsten haben wir nicht den Eindruck als würde man sich hier großartig Sorgen machen.

Ein paar Daten

  • Kilometerstand: 11.289 km
  • Strecke: Balakən – Şəki – Qəbələ – Göyçay Fluss – Ləki – Zərdab – Sabirabad – Şirvan – Ələt – Baku
  • Übernachtungen: 10 x Zelt, 1 x Hotel, 1 x Hostel
  • Zeitraum: 3. – 14. März 2020

In eigener Sache

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Von Anika

Irgendwas mit Fahrradfahren.

2 Kommentare

  1. Hallo Ihr zwei, wenn Ihr auf dem Weg nach Italien im Münchner Westen vorbeikommt, könnt Ihr gerne bei uns Dusche, Essen und einen Platz für‘ s Zelt bekommen. Wir sind Euch mit unseren Zwillingen letztes Jahr mit den Rädern in Lettland und Estland „nachgereist“, und es ist wunderbar, immer wieder von Euch zu lesen. Viele Grüße, Judith

  2. Hallo Judith,

    vielen lieben Dank für die Einladung! Leider werden wir nicht über München fahren, weil wir planen, über die Schweiz nach Italien zu fahren. Falls etwas dazwischen kommt und wir doch nach München fahren, würden wir gern auf das Angebot zurückkommen. 🙂

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