Als wir am Morgen in der Sonne vor dem Lehrerheim in Gölova stehen, fragen wir uns, ob wir uns nicht viel zu warm angezogen haben. Wir hatten uns mit der Anzahl der benötigten Kleidungsstücke an den vorausgesagten leichten Minusgraden orientiert und sind uns jetzt nicht mehr ganz so sicher, ob das nicht vielleicht eine Schicht zu viel war. Nachdem wir dann den windgeschützten Bereich am Eingang verlassen haben, fragen wir uns wiederum, ob wir nicht vielleicht doch eher zu wenig angezogen haben, denn der Wind weht ziemlich mies von der Seite und sorgt dafür, dass wir den ganzen Tag lang Probleme haben werden, warm zu bleiben.
Radfahren im Winter
Wir haben an diesem Tag eine wirklich anstrengende Strecke mit einer Menge Anstiege vor uns, die zwar oft ziemlich steil, in der Regel aber viel zu kurz sind, um richtig warm zu werden. Außerdem folgt fast immer sofort eine Abfahrt, auf der die gerade erarbeitete Wärme direkt wieder verloren geht. Es ist also den ganzen Tag sowohl anstrengend als auch kalt, was den Spaßfaktor zugegebenermaßen ziemlich niedrig hält.
Dafür sorgt die Landschaft aber mal wieder für Ablenkung und bessere Laune. Wir folgen einem Fluss durch ein Tal, das von hohen Bergen mit steilen Abhängen umgeben ist. Die Felswände verlaufen zum Teil direkt an der Straße und sorgen damit für die eine oder andere zusätzliche Kurve. Und weil kaum ein Auto unterwegs ist, können wir die Ruhe, die die Berge ausstrahlen, ausgiebig genießen.
Lediglich ein roter Kleinwagen mit einer Kilometeranzeige, die wahrscheinlich schon fast siebenstellig ist, begleitet uns etwas länger. Er steht immer wieder mit offener Motorhaube und zwei ratlos wirkenden Fahrern am Straßenrand, sodass wir uns das eine oder andere Mal gegenseitig überholen.
Am Nachmittag stehen schließlich noch einige wirklich kräftezehrende Kilometer auf dem Programm, die uns wieder zurück auf ein Level oberhalb der Schneegrenze bringen. Dort oben angekommen haben wir einen tollen Blick auf ein schneebedecktes Tal, sind aber auch ziemlich fertig. Wäre es nicht so kalt, würden wir uns in der Nähe einen schönen Platz für unser Zelt suchen und es uns gemütlich machen.
Wir stellen an diesem Tag endgültig fest, dass es zwar eine spannende Erfahrung ist, im Winter mit dem Fahrrad zu reisen, wir aber eigentlich nicht so viel Lust darauf haben. Die Art, wie wir gern reisen – gemütlich, mit langen Pausen, ohne festen Plan und gern auch bis in den Abend hinein – ist im Winter einfach nicht umsetzbar. Wir müssen den ganzen Tag zusehen, dass wir nicht auskühlen, also möglichst viel fahren und wenige Pausen machen. Wir müssen am Tag ein bestimmtes Ziel erreichen, weil wir nicht campen können. Und wir müssen früh dort ankommen, weil bereits um halb sechs die Sonne untergeht. Das ist uns in Summe zu viel MUSS und zu wenig KANN.
Weil uns jammern und meckern aber bisher noch nicht allzu weit gebracht haben und wir auch gar keine Lust haben, uns selbst die Stimmung zu vermiesen, versuchen wir, das beste aus der Situation zu machen und fahren einfach weiter. Wir wissen, dass wir bald das Schwarze Meer erreichen werden, wo die Temperaturen deutlich milder sind, und hoffen, dass wir in Georgien vom Winter verschont bleiben. [Spoiler: Bleiben wir nicht.]
Teestuben und Arbeitshandschuhe
Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir die Stadt Şiran und finden mit etwas Verzögerung das hiesige Lehrerheim. Wir werden von ein paar Studentinnen, die gerade in der Küche beschäftigt sind und auch hier wohnen, hereingelassen und ausgefragt, bevor sie jemanden anrufen, der die Registrierung abwickelt und uns ein Zimmer zuteilt. Weil wir erstmal genug vom Fahrradfahren haben, bleiben wir gleich für zwei Nächte. Für die Fahrräder bekommen wir einen sicheren und frostgeschützten Parkplatz in der Küche zugeteilt.
Wir nutzen den nächsten Tag zum Ausschlafen und für einen Spaziergang durch Şiran, auf dem wir erst einen tollen Blick auf die Stadt haben und uns dann fragen, ob es sich wirklich rechnen kann, wenn ein Ort genauso viele Teestuben hat wie Einwohner.
Im örtlichen Baumarkt besorgen wir uns noch je ein Paar Arbeitshandschuhe in der größten Größe, die wir auf der nächsten langen Abfahrt über unsere beiden anderen Handschuhpaare ziehen wollen. Die Arbeitshandschuhe sind in unauffälligem Neongelb und -grün gehalten und haben an den Fingern einen gummierten Überzug, von dem wir uns einen zusätzlichen Windschutz erhoffen.
Winter, Sonne, Berge
Und bereits am nächsten Tag sollen wir die Möglichkeit bekommen, unsere neuen Handschuhe zu testen – vorher geht es aber nochmal kurz auf 2.000 Meter Höhe. Nach unserem Pausentag sind die Oberschenkel wieder frisch für den nächsten Berg und die leeren, super asphaltierten und schneefreien Straßen sorgen für ein tolles Fahrgefühl. Und das beste: Die Sonne sorgt in Verbindung mit dem leichten Anstieg dafür, dass wir die 28 Kilometer auf den Berg ohne Jacken fahren können. So macht der Winter dann doch wieder Spaß.
Weniger Spaß machen die zehn Hunde, die uns mitten im Nirgendwo am einzigen Haus weit und breit entgegengelaufen kommen. Die meisten von ihnen sind nur aufgeregt, weil sonst nichts passiert, aber zwei sind wirklich aggressiv und lassen sich nicht einfach abschütteln, zumal wir bergauf auch nicht sonderlich schnell sind. Der Besitzer, ein alter Mann, steht an seinem Haus und beobachtet das Geschehen aus der Ferne, ohne in irgendeiner Art und Weise einzugreifen. Ein Autofahrer mit einem großen Geländewagen hilft uns schließlich, indem er sich zwischen uns und die Hunde schiebt und so lange wartet bis wir außer Sichtweite sind.
Wir ärgern uns sehr, aber nicht besonders lange über den Zwischenfall, denn die tolle Aussicht auf die eingeschneite Landschaft und die Tatsache, dass wir langsam genug vorankommen, um sie ausgiebig genießen zu können, ziehen unsere volle Aufmerksamkeit auf sich. Die letzten Kilometer des Anstiegs verlaufen in Serpentinen und haben es nochmal richtig in sich – ein Fußgänger hätte auf diesem Abschnitt wahrscheinlich einen merklichen Geschwindigkeitsvorteil gehabt.
Dafür ist das Gefühl, am Ende doch oben angekommen zu sein und auf das Meer von schneebedeckten Bergen blicken zu können, wirklich atemberaubend. Die Straße zu sehen, die sich hinter uns steil am Berg entlang schlängelt, und zu wissen, diese mit seiner eigenen Körperkraft bezwungen zu haben, macht uns schon ein bisschen stolz.
Wir genießen diesen großartigen Ort mit dem verschneiten Tal hinter und dem weitestgehend schneelosen Tal vor uns ausgiebig, bevor wir uns wieder warm anziehen, um die nächste Abfahrt in Angriff zu nehmen.
Unsere neuen Arbeitshandschuhe kommen wie geplant zum Einsatz und machen ihren Job gar nicht so schlecht, denn die ersten Kilometer sind mal wieder unglaublich kalt. Je weiter wir fahren, desto tiefer ins Tal kommen wir und desto angenehmer werden auch die Temperaturen, sodass wir sogar kurz darüber reden, ob wir nicht mal wieder zelten können.
Eine Unterkunft finden – der türkische Weg
Das wird allerdings nicht notwendig, weil wir über Warmshowers mit Cihat in Kontakt gekommen sind. Der kann uns zwar nicht selbst hosten, vermittelt uns aber an seinen Freund Orhan, der uns dabei hilft, eine Unterkunft zu finden. Weil das örtliche Lehrerheim ausgebucht und das einzige Hotel zu teuer ist, macht Orhan eine für uns eher ungewohnte Übernachtungsmöglichkeit klar: das offizielle Gästehaus der Stadtverwaltung.
Die einzigen beiden Bedingungen: wir müssten bereit sein, gemeinsam in einem Einzelzimmer zu übernachten, und dafür ist es natürlich unerlässlich, dass wir verheiratet sind. Nachdem wir ja nun mittlerweile eine passable Heiratsurkunde vorzeigen können und sowieso immer unseren gesamten Hausstand dabei haben, ist das alles überhaupt kein Problem für uns.
Und weil alle Leute denken, dass wir Sportler wären, nur weil wir Fahrrad fahren, bekommen wir ein Zimmer auf der Sportleretage zugeteilt, die wir uns mit den Volleyballern von Torul Gençlik teilen. Bevor wir mit den Jungs in Kontakt kommen, unternehmen wir noch einen Ausflug mit Cihat und Orhan auf eine Aussichtsplattform aus Glas, die so weit oben über der Stadt gelegen ist, dass sie für uns an diesem Tag mit dem Fahrrad unerreichbar gewesen wäre. Aber zum Glück hat Cihat ein Auto.
Scheise!
Am Abend kommen wir im Gemeinschaftsraum mit ein paar Volleyballern von unserer Etage ins Gespräch und erfahren, dass sie jeden Tag ein paar Mal trainieren, in der zweiten Liga spielen und davon leben können. Letzteres überrascht uns ein wenig, denn ganz so professionell wirken die Typen gar nicht, die uns da rauchend gegenüber sitzen. Dafür sind sie aber umso sympathischer und bieten uns sogar an, unser Zimmer gegen eines ihrer Doppelzimmer zu tauschen, damit wir es in der Nacht etwas bequemer haben.
Die Kommunikation ist nicht ganz so einfach, weil wir keine gemeinsame Sprache sprechen und uns größtenteils mithilfe des Translators verständigen. Nachdem wir unsere ausgereiften türkischen Sprachkenntnisse präsentiert haben, die vor allem aus Lebensmitteln und den Zahlen von eins bis vier bestehen, bekommen wir eine Kostprobe ihrer Deutschkenntnisse. Das Wort, das fast jeder Nichtmuttersprachler auf Deutsch weiß, fällt natürlich als erstes: “Scheise!” [International wird es mit einem weichen s in der Mitte ausgesprochen.] Einer, der einen Cousin in Deutschland hat, weiß sogar noch ein paar kurze Sätze und ein anderes überaus wichtiges Wort: “Eierkopf!”
Am nächsten Morgen sind wir um 9:00 Uhr zum Frühstück verabredet und als wir um 9:15 Uhr in den Gemeinschaftsraum kommen, ist außer Bülent noch niemand wach. Bülent ist Trainer, Manager, Koch und Physiotherapeut in Personalunion und kümmert sich um alles, was es zu tun gibt, weshalb er gerade dabei ist, Frühstück zu machen. Erst frühstücken wir zu dritt, später kommen dann noch ein paar der Volleyballer dazu und wir erzählen von unserer Reise und der Gastfreundschaft, die wir in der Türkei erlebt haben. Es fällt uns schwer, uns vom Frühstückstisch loszueisen. Wir wollen aber auch nicht allzu spät aufbrechen, denn wir haben auch heute wieder einen fast 2.000 Meter hohen Berg vor uns.
21 Hochhäuser
Was uns zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so bewusst ist: wir befinden uns hier in Torul auf 940 Metern und damit auf einem deutlich niedrigeren Ausgangslevel als noch am Vortag in Şiran, wo wir auf 1.460 Metern gestartet sind. Dazu kommt, dass die Strecke bis zum höchsten Punkt heute nur 21 statt am Vortag 28 Kilometer lang ist. Pi mal Daumen ergibt sich daraus ein durchschnittlicher Anstieg von fünf Prozent – anstelle von zwei Prozent gestern.
Fünf Prozent klingen jetzt erstmal nicht unbedingt nach einer größeren sportlichen Herausforderung, weshalb wir das Ganze mal etwas veranschaulichen wollen: fünf Prozent von einem Kilometer sind fünfzig Meter. Sprich: Pro Kilometer, den wir an Wegstrecke zurücklegen, überwinden wir fünfzig Höhenmeter. Oder noch ein bisschen anschaulicher: nach jedem gefahrenen Kilometer haben wir ein 16-stöckiges Hochhaus erklommen. Und das Ganze machen wir 21-Mal hintereinander.
Direkt hinter Torul beginnt der Anstieg. Die Straße ist ziemlich stark befahren und wir passieren nach wenigen Kilometern die Baustelle, an der gerade ein Tunnel gebaut wird, der auf die andere Seite des Berges führt, in wenigen Monaten und folgenden Generationen von Radfahrern über tausend Höhenmeter sparen soll. Timing ist alles.
Alle fünf oder sechs Hochhäuser legen wir eine kurze Pause ein, um die Beine zu entspannen, eine kleine Stärkung einzunehmen oder beim Blick ins Tal zu staunen, wie weit und vor allem wie hoch wir bereits gekommen sind. Denn fast alle Anstiege haben eine kleine, aber fiese Eigenheit gemein: während man nach vorn schaut, sieht man die Steigung nicht oder nur sehr wenig. Erst der Blick zurück zeigt, gegen welche Höhen man eigentlich kämpft.
Frühling!
Den höchsten Punkt erreichen wir an diesem Tag bei knapp 1.900 Metern vor dem Zigana-Tunnel, der uns auf die andere Seite des Berges führen soll. Hinter dem Tunnel geht es fünfzig Kilometer bergab bis nach Trabzon am Schwarzen Meer. Vorher müssen wir uns aber noch durch so dichten Staub kämpfen, dass wir kaum hundert Meter weit gucken können. Dazu kommt der Lärm der Autos und LKW, der so stark in den Ohren dröhnt, dass wir uns ständig von einem Zwanzigtonner verfolgt fühlen.
Als wir die andere Seite erreichen, fühlen wir uns als hätte uns der Tunnel viel weiter weg geführt als nur auf die andere Bergseite. Es ist hier nämlich deutlich wärmer, es liegt kaum noch Schnee und die Luft riecht nach Frühling. Wir haben den Winter endlich hinter uns gelassen und freuen uns riesig über die Aussicht auf Frühling. Während wir bergab rollen, können wir den Blick über die grünen Berge und die Orte wandern lassen, die weitläufig an den Berghängen verteilt sind.
Hin und wieder müssen wir den Blick auf die Straße richten, denn es gibt noch die eine oder andere Baustelle und ein paar ziemlich dunkle Tunnel zu passieren – und ganz langsam sind wir auch nicht unterwegs. Der Tacho wird am Abend die absolute Höchstgeschwindigkeit dieser Reise von 62 Kilometern pro Stunde anzeigen und wir ahnen, dass wir diese ausgerechnet in dem Tunnel erreichen, den wir fast blind durchqueren müssen, weil es dort kein Licht gibt.
Zu Gast bei Nuri
Unser heutiger Couchsurfing-Host Nuri wohnt nicht direkt in Trabzon, sondern etwas außerhalb der Stadt auf einem der Berge in der Umgebung. Er hatte uns vorab gewarnt, dass der Weg zu ihm keine Strecke zum Fahrradfahren ist. Er hatte uns eine Alternative mit dem Bus aufgezeigt und uns empfohlen, diese nutzen. Wir hatten das alles ganz selbstbewusst abgewunken, denn wir sind ja schließlich schon ein paar Mal mit dem Fahrrad auf 2.000 Metern gewesen. Da kann uns doch so ein Hügel am Meer nicht aufhalten. Dachten wir.
Die Realität sieht so aus, dass wir für die letzten zehn Kilometer an diesem Tag bestimmt drei Stunden brauchen, weil die Wege so steil sind, dass sie mit einem voll beladenen Fahrrad einfach nicht fahrbar sind. Vor allem, wenn Beine und Kopf schon im Feierabendmodus sind. Immer wieder müssen wir absteigen und schieben, immer wieder überholen uns Anwohner, die gemütlich spazieren gehen. Am Ende sind wir so erschöpft und frustriert, dass wir gar keine Lust mehr haben, zu Nuri zu fahren, und den ersten Blick auf das Schwarze Meer gar nicht richtig genießen können.
Wie so oft ist aber alles vergessen als wir bei unserem Host ankommen, von einem niedlichen schwanzwedelnden Hund empfangen und direkt auf die Couch gesetzt und verköstigt werden. Nuri ist ein älterer Herr, der allein mit seinem Hund Raffi lebt, schon über zweihundert Gäste beherbergt hat und bestens auf alles vorbereitet ist. In seinem Gästezimmer liegen Broschüren und ein Busfahrplan bereit und nach dem Essen bekommen wir eine Einführung über alle Aktivitäten und Orte, die in der Region Trabzon für Besucher interessant sein könnten.
Wir zeigen Nuri später unsere Route durch die Türkei auf einer riesigen Papierkarte und während er uns einiges über die Geschichte Anatoliens erzählt, notiert er immer wieder die entsprechenden Daten auf einem weißen Blatt Papier. Wir haben ein bisschen Angst, dass wir am nächsten Morgen über Jahreszahlen abgefragt werden und eine schlechte Note bekommen, genießen den Abend aber sehr. Nuri spricht ziemlich gut deutsch und gibt sich richtig viel Mühe, dass wir uns bei ihm wohlfühlen.
Bevor wir am nächsten Morgen aufbrechen, frühstücken wir gemeinsam ein Gericht namens Kuymak, das hier in der Region traditionell von Bauern gegessen wird, weil es viel Energie gibt. Es besteht aus Maismehl, Butter, Wasser Salz und Käse, schmeckt verboten gut und gibt uns Kraft für den ganzen Tag.
Stadtrundfahrt und Highway
Wir unternehmen eine kurze Stadtrundfahrt durch Trabzon, auf der wir zweimal auf Deutsch angesprochen werden, geraten außerplanmäßig in eine übervölkerte Fußgängerzone, die gleichzeitig als Basar dient, und erreichen schließlich den Highway, der uns die nächsten zweihundert Kilometer bis nach Georgien führen wird.
Der Highway ist ganz genau so wie wir ihn erwartet hatten: stark befahren, laut und ohne Blick aufs Wasser. Obwohl wir direkt neben dem Schwarzen Meer fahren, sehen wir davon fast gar nicht, weil der Verkehr zu stark ist und sich zwischen den beiden Fahrtrichtungen meist ein Zaun befindet, der die Sicht behindert. Genügend Gründe also, um die letzten zweihundert Kilometer hier in der Türkei möglichst schnell hinter uns zu bringen.
Obwohl die Temperaturen frühlingshaft zweistellig sind, können wir nicht campen, denn zwischen Meer, Straße, Bergen und Städten gibt es keinen ungestörten für unser Zelt. Stattdessen kommen wir wieder in einem Lehrerheim unter, in dem wir unsere Heiratsurkunde mittlerweile wie selbstverständlich vorlegen, um die Frage nach dem fehlenden Ring und den verschiedenen Nachnamen zu beantworten.
120 Kilometer und ein undichter Reifen
Für den nächsten Tag haben wir uns vorgenommen, fast bis an die Grenze zu fahren und unsere letzte Nacht in der Türkei bei Murat zu verbringen, der unter den Radfahrern auf dieser Route sowas wie eine Legende ist. Und weil es noch 120 Kilometer bis zu Murat sind, wollen wir früh aufbrechen, um nicht allzu spät bei ihm anzukommen.
Wir kommen auch tatsächlich früh aus dem Bett und sind eine Stunde vor unserer gewohnten Zeit auf der Straße, nur um festzustellen, dass Anika einen platten Hinterreifen hat. Timing ist alles.
Wir flicken den Reifen direkt auf dem Gehweg vor dem Lehrerheim, wo wir wie immer von allen Passanten beobachtet werden. Ein Mann, der gemütlich auf einer Bank saß, ist sogar aufgestanden, um etwas besser gaffen zu können. So gern wir die Türkei und die Menschen hier haben, aber das Gegaffe, das in dieser Region schlimmer ist als im Westen des Landes, geht uns mittlerweile richtig hart auf die Nerven. Und sorgt nicht unbedingt für bessere Laune während des Flickens.
Nachdem wir den Schlauch dann dreißig Kilometer später gegen einen Ersatzschlauch ausgetauscht haben, kommen wir sehr gut voran und können den ganzen Tag lang einen Schnitt von etwa zwanzig Kilometern pro Stunde halten. Das ist für uns ziemlich viel und nach zwei Wochen, in denen wir mit einstelligen Zahlen auf dem Tacho gegen die Berge gekämpft haben, auch ziemlich ungewohnt. Wir fühlen uns fast ein bisschen wie Sportler.
Eigentlich ist es aber schon schade, dass wir so schnell durch diese Gegend rasen, denn eigentlich ist es hier wirklich schön. Links von uns befindet sich das Meer, rechts große grüne Berghänge voller Tee, dazwischen immer wieder Wasserfälle und Täler, die den Blick ins Hinterland eröffnen. Wenn da doch bloß nicht diese Straße und die gefühlten Millionen Autos und LKW wären, die uns jede Stunde überholen.
Bei Murat im Paradies
Bevor wir bei Murat ankommen, müssen wir noch einen Kilometer auf der Gegenfahrbahn fahren, denn Murat wohnt zwischen Highway und Meer, quasi direkt am Strand. Er hilft uns dabei, die Fahrräder über die Leitplanke zu heben und gibt uns direkt eine Führung durch sein kleines Reich.
Wir stehen bereits neben der Freiluft-Badewanne, in die über eine Leitung immer frisches Quellwasser direkt aus den Bergen läuft. Die Terrasse in Richtung Meer ist gerade noch im Bau und soll im Sommer fertig sein. Im Baum gibt es ein eigenes kleines Häuschen für seine Katze Nina.
Sein Haus hat Murat selbst gebaut und mit einem Rundum-Meerblick ausgestattet. Es hat nur einen Raum, der als Wohnzimmer und Schlafzimmer mit offener Küche dient, denn der Holzofen übernimmt gleichzeitig die Funktion von Heizung und Herd. Strom wird über ein Solarmodul auf dem Dach erzeugt.
Murat selbst ist ein unglaublich entspannter Typ, der sein Leben genießt – etwa jedes zweite Wort ist “Relax!” – und einfach gern Besuch hat. Und weil diese Strecke in Richtung Georgien bei Radfahrern sehr beliebt ist, sind es auch vor allem Radfahrer, die bei ihm einkehren. Viele Leute treten über Warmshowers oder Couchsurfing mit ihm in Kontakt, andere hält er einfach auf der Straße an und lädt sie zu sich ein – manche bleiben daraufhin mehrere Wochen bei ihm.
Weil er uns schon erwartet hat, hat Murat für uns Spaghetti gekocht, die wir nach unserem langen Fahrradtag sehr gut gebrauchen können. Zum Nachtisch gibt es ein Gericht mit viel “Enerji”, wie er sagt, das aus geriebenen Möhren, zerbröselten Keksen und Weintraubensirup besteht.
Wir erzählen den ganzen Abend, Murat zeigt uns stolz sein Gästebuch und seinen Instagram-Account, in denen sich alle seine Gäste verewigt haben. Und siehe da: selbst jetzt im Winter hat Murat alle paar Tage Besuch von Radfahrern aus der ganzen Welt. Wir sind nicht allein auf der Straße.
Als wir gerade anfangen wollen, uns Armbänder zu basteln, geht das Licht aus. Es war ein bedeckter Tag und das Solarmodul konnte nicht genug Strom erzeugen, um uns die ganze Nacht mit Licht und Musik zu versorgen. Das ist natürlich überhaupt kein Problem, denn wir sind es ja gewohnt, keinen Strom zu haben, und entsprechend vorbereitet. Schnell sind die Powerbanks verteilt und die Stirnlampen im Einsatz, sodass wir nicht im Dunkeln basteln müssen.
Über Nacht zieht eine dicke Regenfront auf, die uns den ganzen nächsten Tag lang mit Regen versorgen soll. Deshalb lassen wir uns viel Zeit mit dem Frühstück, trinken viel Tee, erzählen noch lange mit Murat und kuscheln mit Nina. Der Ofen sorgt dafür, dass es richtig warm und gemütlich ist und wir das Haus eigentlich gar nicht verlassen wollen.
Wir spüren aber, dass es an der Zeit ist, weiterzuziehen und ein neues Land zu erobern. Wir verabschieden uns von Murat, schreiben einen letzten Gruß auf sein Haus, wie es alle Gäste machen, und arbeiten uns gegen den Regen in Richtung Georgien.
Murat wird uns lange in Erinnerung bleiben, denn wir sind beeindruckt von seiner Lebensweise und dem Grad seiner Entspanntheit, mit der er sein Leben lebt. Er hat nicht viel, aber alles, was er braucht. Sein Leben ist wahrscheinlich nicht immer so entspannt und einfach wie wir es gesehen haben, denn wir haben nur einen oberflächlichen Eindruck gewinnen können. Dennoch wirkt er glücklich und zufrieden mit dem, was er hat.
Güle, Güle!
Nur dreißig sehr nasse Kilometer später stehen wir an der Grenze zu Georgien und verlassen das Land, das bisher sicherlich den größten Eindruck auf unserer Reise hinterlassen hat, weil wir mit Abstand am längsten hier waren.
Wir hatten eine großartige Zeit in der Türkei, sind 82 Tage hier gewesen und 2.500 Kilometer durch das Land geradelt. Wir haben hier eine wunderbare Gastfreundschaft erfahren, unglaublich viele, tolle Leute kennengelernt und das Gefühl gehabt, richtig in diesem Land angekommen zu sein.
In nur drei Monaten haben wir von Sommer bis Winter alle Jahreszeiten erlebt, sind zum ersten Mal über 2.000 Meter gewesen und im Schnee gefahren. Wir sind glücklich darüber, dass wir die Möglichkeit hatten, das Land und die Leute so intensiv kennenzulernen, um bestätigt zu bekommen, was wir vorab im Grunde schon wussten und was wohl für alle Länder gilt: In der Realität ist es hier ganz anders als es in den Medien dargestellt wird – das alltägliche Leben und die Politik haben so gut wie nichts miteinander zu tun.
Teşekkür ederim, Türkiye! Güle, Güle!
Köfte, Ayran, Sucuk. Bir, iki, üç, dört.
Ein paar Daten
- Kilometerstand: 9.894 km
- Streckenverlauf: Gölova – Şiran – Torul – Trabzon – Rize – Sarpi
- Übernachtungen: 3 x Lehrerheim, 1 x Gästehaus, 1 x Couchsurfing, 1 x Warmshowers
- Zeitraum: 25. – 31. Januar 2020
- Link zu Murats Instagram-Account
In eigener Sache
Wie du vielleicht weißt, finanzieren wir unsere Fahrradweltreise komplett selbst und haben keinen großen Sponsor, der uns versorgt. Wir haben einen Betrag gespart, mit dem wir erstmal eine Weile leben können. Dennoch wollen wir versuchen, über unseren Blog einige Einnahmen zu generieren, um die Website am Laufen zu halten und einige Kosten zu decken, die auf der Reise anfallen. Erfahrungen zeigen, dass man durchschnittlich mit etwa zehn Euro pro Person und Tag rechnen kann, womit dann neben der Verpflegung auch Anschaffungen, Reparaturen, Visa etc. abgedeckt sind. Falls du Lust hast, uns dabei zu unterstützen, kannst du ganz einfach über [diesen Link] einen selbst bestimmten Betrag per Paypal an uns senden.
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