Am 18. Januar 2020 wollen wir unsere Pause an der türkischen Riviera beenden und unsere Reise fortsetzen. Einen ganzen Monat hatten wir Zeit, unsere Sachen zu sortieren, das Zelt wieder wasserdicht zu machen, die Reifen zu wechseln und die Fahrräder auf Vordermann zu bringen. Einen ganzen Monat, um die Aufgaben über die Zeit zu verteilen. Einen Monat, um alles in Ruhe und gewissenhaft zu erledigen.
Dementsprechend fangen wir zwei Tage vor Abfahrt damit an, die gröbsten Aufgaben abzuarbeiten und zu entscheiden, dass das meiste, was wir uns vorgenommen hatten, gar nicht so ausschlaggebend war. Etwa eine halbe Stunde vor Rückgabe unseres Hauses an den Vermieter sind die Taschen gepackt und wir abfahrbereit. Pünktlichkeit ist halt eine unserer Stärken.
Pläne kommen, Pläne gehen
Unser Plan sah eigentlich mal vor, dass wir von Belek aus nach Kayseri in Anatolien radeln und von dort aus mit dem Zug über Teheran in den Südiran fahren, um dem Winter aus dem Weg zu gehen. Diesen Plan mussten wir aber leider aufgrund der angespannten und zu diesem Zeitpunkt unvorhersehbaren politischen Lage ad acta legen. [Zur Erinnerung: Anfang Januar wurde der iranische General Soleimani durch einen Angriff der USA getötet, woraufhin der Iran mit Vergeltung drohte und die USA ihrerseits damit prahlten, bereits 52 Ziele im Iran im Auge zu haben. Nicht die beste Zeit für eine ausgedehnte Iranreise wie wir fanden.]
Wir steckten also mögliche Alternativen ab und entschieden, das unser nächstes Reiseland Georgien werden sollte. Weil die Strecke dorthin allerdings deutlich länger war als wir in den verbleibenden vier Wochen, die wir noch in der Türkei bleiben durften, (entspannt) hätten schaffen können, haben wir uns einen Bus nach Göreme in Kappadokien gebucht, um den Weg um fünfhundert Kilometer abzukürzen. Unser erster richtiger Fahrradtag 2020 endet also bereits nach zwölf Kilometern am Busbahnhof von Serik, an dem wir mit der Anwesenheit zweier voll bepackter Fahrräder unserem Busfahrer gehörig die Laune vermiesen.
Zuerst will er uns nicht mitnehmen, zeigt auf die Räder und schüttelt mit dem Kopf. Nach Rücksprache mit der Frau vom Schalter, die uns sagte, dass wir die Fahrräder mitnehmen könnten, wenn wie die Räder abnehmen, willigt er schließlich ein. Und wie das nun mal in der Türkei so Brauch ist, stehen mittlerweile alle Leute, die nichts besseres zu tun haben, um uns herum und schauen neugierig wie unbeteiligt dabei zu, wie wir die Fahrräder auseinander nehmen, während Busfahrer und Schalterfrau uns lautstark animieren, doch bitte etwas schneller zu arbeiten. Als drei von vier Rädern abmontiert sind, scheint ihre Geduld am Ende und die Fahrräder werden so wackelig ins Gepäckfach geladen, dass wir ernsthaft hoffen müssen, dass sie heil in Göreme ankommen.
Willkommen im Winter
Der Bus bringt uns über Nacht nicht nur in eine ganz andere Klimazone, sondern auch auf einen neuen Abschnitt unserer Reise, auf dem erstmal vieles anders wird. Denn jetzt ist erstmal Winter angesagt. Und zwar nicht so ein Möchtegernwinter wie wir ihn aus Deutschland kennen mit Temperaturen um Null Grad und Schneeregen. Nein, wir werden jetzt richtigen Winter hautnah erleben dürfen, denn abseits der Küstenlinien herrscht in der Türkei kontinentales Klima, das im Winter auch schon mal zu zweistelligen Minusgraden und viel Schnee führen kann.
Wir erreichen Göreme gegen sieben Uhr morgens und bekommen direkt einen ersten Eindruck davon, was uns in den nächsten Wochen erwartet. Es ist noch dunkel, das Thermometer im Bus zeigt minus drei Grad an und es ist leicht windig. Die Fahrräder sind glücklicherweise noch heil, wollen aber wieder zusammengesetzt und beladen werden. Als wir damit fertig sind, ist die Sonne bereits aufgegangen und die Finger zum ersten Mal abgefroren. Weil noch kein Lokal geöffnet ist, in dem wir einen warmen Tee oder Kaffee bekommen können, frühstücken wir Bananen und Müsliriegel und sehen zu, dass wir uns durch Bewegung aufwärmen.
Penisse und Heißluftballons
Der erste Punkt auf unserem Weg wird im Türkischen ganz romantisch als “Aşıklar vadisi” (Liebhabertal) bezeichnet. Im Deutschen ist man da etwas plakativer und bezeichnet den Ort als das, was er ist: das Tal der Penisse. Und es braucht wirklich nicht allzu viel Fantasie, um sich die Herkunft dieses Namens herzuleiten.
Wir verbringen den ganzen Tag in der Nähe von Göreme und drehen einen großen Bogen um die Stadt, auf dem wir immer wieder auf Gesteinsformationen treffen, die zu märchenhaft wirken, als dass sie wirklich echt sein könnten. Hinter jeder Kurve, nach jedem Anstieg wartet eine Überraschung auf uns.
Als wir gerade an einem besonders interessanten Feld von Hügeln für ein Fotoshooting anhalten, sehen wir am Horizont einen Heißluftballon aufsteigen, dem wenig später bestimmt fünfzig weitere folgen. Kappadokien ist bekannt für seine Heißluftballons. Weil wir zum Sonnenaufgang allerdings keine Ballons gesehen hatten, waren wir davon ausgegangen, dass die Ballonfahrten im Winter nicht angeboten werden, und freuen uns umso mehr, dass wir sie nun doch zu sehen bekommen.
Auch wenn es den ganzen Tag über so kalt ist, dass uns sogar das Wasser in den Trinkflaschen gefriert, sind wir wirklich froh darüber, Kappadokien im Winter erleben zu dürfen, denn die zahlreichen Restaurants, Hotels und Tagesausflugsangebote, die wir im Rest des Landes gesehen haben, deuten daraufhin, dass die Gegend im Sommer von Touristen überlaufen ist. Wir ahnen, dass wir im Juni nicht genügend Ruhe gehabt hätten, um die Täler, Berge und Dörfer wirklich genießen zu können.
Höhlen
Kappadokien und besonders Göreme ist für eine weitere Besonderheit bekannt: Höhlen. Der Sandstein, der die Region prägt, ist so weich, dass die Menschen schon früh angefangen haben, ihre Wohnung direkt in den Stein zu schlagen, der im Winter die Kälte abhält und im Sommer Schatten spendet. Auch heute noch leben viele Menschen in diesen Höhlenwohnungen.
Über Couchsurfing [Warmshowers ist in dieser Region nicht sonderlich verbreitet] sind wir an ein Hotel in Göreme gekommen, das direkt in einen Berg eingearbeitet ist und eine kostenlose Übernachtung im Austausch gegen eine positive Bewertung auf einem Tourismusportal anbietet. Unser Zimmer befindet sich im Erdgeschoss, Fenster gibt es natürlich nicht, die Wände sind gezeichnet von den Werkzeugen, mit denen das Zimmer ausgehöhlt wurde und die Regale sind einfach direkt in die Wand geschlagen.
Der erste Schnee
Am nächsten Tag packen wir rechtzeitig die Räder und machen uns auf den Weg nach Kayseri, die nächste größere Stadt. Morgens ist es noch sonnig und dadurch einigermaßen warm, aber im Laufe des Tages zieht es zu, der Wind weht kalt von der Seite, die Temperaturen fallen unter Null und der erste Schnee fällt. Wir lernen schnell, dass dies nicht die Jahreszeit für ausgedehnte Mittagspausen ist, und versuchen, möglichst in Bewegung bleiben, um nicht auszukühlen.
Trotzdem sind wir einigermaßen durchgefroren als wir Kayseri erreichen, denn unterwegs ist nicht mal eine Tankstelle zu finden, an der warmer Tee ausgeschenkt wird. Einen Tee bekommen wir erst in Kayseri als wir unsere Isomatten und ein paar Klamotten, die wir aussortiert haben, beim Roten Halbmond [dem türkischen Bruder des Roten Kreuzes] abgeben. Die Isomatten hatten begonnen Blasen zu werfen, weshalb wir vom Hersteller zwei neue zugeschickt bekommen hatten. Weil die alten Matten allerdings noch durchaus brauchbar sind und weiterhin eine phänomenale Isolierwirkung haben, wollten wir sie nicht einfach wegschmeißen.
Gastfreundschaft und Vertrauen
Später bekommen wir ein weiteres Mal gezeigt, was die Begriffe „Gastfreundschaft“ und „Hilfsbereitschaft“ in der Türkei bedeuten. Über Couchsurfing sind wir mit jemandem in Kontakt gekommen, der uns selbst nicht aufnehmen kann, uns aber die Nummer eines Freundes gibt. Dieser Freund antwortet ziemlich schnell auf unsere Nachricht und sendet uns einen Standort in einem Wohngebiet mit der Erklärung, dass er uns helfen könnte, wenn wir dorthin fahren würden.
Dort angekommen nimmt er uns in Empfang und bringt uns in die Wohnung eines anderen Freundes in der Nähe, die derzeit leer steht, weil dieser beim Militär ist. Wir haben diese Wohnung die ganze Nacht für uns allein und können alles nutzen, was wir hier finden, duschen, kochen, heizen, schlafen. Nach einem überaus kalten Tag auf dem Fahrrad ist das absoluter Luxus für uns.
Und nochmal zum Mitschreiben: uns – Fremden, Ausländern – wird eine Wohnung überlassen, die dem Freund eines Freundes von einem Typen gehört, den wir über Couchsurfing kontaktiert und noch nie im Leben persönlich getroffen haben. Wie groß muss das Vertrauen in die Menschen im Allgemeinen sein, dass das möglich ist? Wir sind sprachlos und wissen gar nicht, wie wir dieses Vertrauen jemals zurückgeben können.
Nachdem wir am nächsten Morgen den Wohnungsschlüssel zurückgegeben haben, machen wir uns auf den Weg nach Norden. Die nächste größere Stadt ist Sivas und wir hoffen, dass wir die zweihundert Kilometer dorthin in zwei Tagen schaffen.
Der Etikettenvertreter und sein Transporter
Noch bevor wir Kayseri verlassen, werden wir von einem weißen Transporter überholt, der direkt vor uns rechts ranfährt. Der Fahrer steigt aus und fragt, ob er uns mitnehmen soll, er wolle nach Sivas und hätte noch Plätze frei. Normalerweise nehmen wir solche Angebote nicht an, weil wir ja schließlich Fahrrad fahren wollen, aber heute ist so ein Tag, an dem wir mehr Lust haben, mit dem Auto zu fahren.
Und im Laufe des Tages stellen wir fest, dass das absolut die richtige Entscheidung war, denn es ist unbeschreiblich kalt und wir wären einem Gegenwind ausgesetzt gewesen, mit dem wir Sivas wohl eher in vier statt zwei Tagen erreicht hätten. Bei einem Halt an der Tankstelle treffen wir auf einen anderen Radfahrer – Will aus England -, der so schlimm friert, dass er am ganzen Körper zittert, und schnellstmöglich in die Tankstelle verschwindet, um sich mit dem einen oder anderen Tee aufzuwärmen. Sein Ziel für heute ist ebenfalls Sivas, sodass wir guter Dinge, uns spätestens am nächsten Tag auf der Straße zu treffen.
Der freundliche Herr, der uns in seinem Transporter vor Unterkühlung rettet, ist Mithat. Er ist selbstständiger Etikettenvertreter, der seine Ware an Supermärkte und Tankstellen für den Eigenbedarf verkauft, weshalb wir auf unserem Weg einige Male anhalten. Er ist jetzt erstmal für ein paar Wochen unterwegs und der Transporter voller Kartons mit Etiketten, die sich hervorragend eignen, unsere Fahrräder während der Fahrt zu sichern.
Polizeikontrollen und Vertrauen
Bevor wir Sivas erreichen, müssen wir die Hauptstraße verlassen, denn Mithat weiß von einer Polizeikontrolle vor der Stadt, bei der wohl das Gewicht der Fahrzeuge kontrolliert wird, was für ihn wohl teuer werden könnte.
Stattdessen fahren wir also über verschneite Feldwege in kleine Dörfer irgendwo im nirgendwo. Nebenbei versuchen wir, die Frage zu verdrängen, wie wohl so ein offensichtlich zu schwer beladenes Fahrzeug in der Kurve liegt. Auf einer rutschigen Straße. Neben einem Fluss. Aber nachdem uns zuletzt so viel Vertrauen entgegengebracht wurde, wollen wir jetzt auch einfach mal darauf vertrauen, dass Mithat weiß, was er tut.
Und tatsächlich kommen wir heil und ohne Zwischenfälle in Sivas an. Weil wir über Warmshowers und Couchsurfing kein Glück hatten, schlägt Mithat vor, dass wir uns ein Hotelzimmer teilen und am Abend gemeinsam kochen können. Das klingt nach einer fabelhaften und kostengünstigen Idee, weshalb wir natürlich zusagen.
Der Etikettenvertreter und die fehlende Unterwäsche
Wir haben einen lustigen Abend zu dritt, kochen, essen, trinken Wodka und machen einen Spaziergang durch die Stadt in ein Café, in dem wir über Videochat mit einer von Mithats Bekannten aus Deutschland telefonieren. Als wir zurück ins Hotel kommen, verkündet Mithat, dass wir jetzt Freunde wären und wir es nun uns gemütlich machen könnten. Er ginge jetzt erstmal duschen und wasche anschließend seine Kleidung.
Was für uns im ersten Moment nicht besonders ungewöhnlich klingt, entwickelt sich zu einer äußerst seltsamen Situation als Mithat mit nicht mehr als einer kurzen Sportjacke und einem viel zu kurzen Handtuch um den Hüften bekleidet aus dem Bad kommt. Er hat offenbar alles gewaschen, was er an diesem Tag getragen hat. Und was sich in seiner Reisetasche befindet, wissen wir nicht, aber Unterwäsche scheint nicht dazuzugehören.
Für den Rest des Abends haben wir Schwierigkeiten, uns auf unsere Gespräche zu konzentrieren, denn Mithat nimmt seine Aussage, es sich gemütlich zu machen, sehr ernst und scheint unsere Freundschaft bereits als so fest zu betrachten, dass es völlig normal ist, unten ohne auf dem Bett zu sitzen und sich über seine Geschäfte und Familie zu unterhalten.
Am nächsten Morgen sehen wir zu, dass wir früh aus dem Hotel kommen, schaffen es aber nicht ganz, Mithat dabei nicht aufzuwecken. Das Minihandtuch scheint über Nacht irgendwie verloren gegangen zu sein, sodass er uns verabschiedet, in dem er ausschließlich seine Sportjacke trägt, die überhaupt nichts zu verdecken vermag. What the fuck!? Bloß schnell weg hier. Es ist eine ziemlich seltsame Erfahrung, die mittlerweile zu einer witzigen Anekdote geworden ist und sehr schön die Vielseitigkeit der Erlebnisse unserer Reise aufzeigt.
Arbeitsteilung und Böreks
Wir kommen sehr schnell wieder auf andere Gedanken, als wir am Ortsausgang in eine kleine Bäckerei einkehren, um uns für den Tag zu stärken. Viel Platz steht im Verkaufsraum nicht zur Verfügung und der wird auch schon zu einem Großteil von Angestellten eingenommen. Arbeitsteilung wird hier sehr groß geschrieben, weshalb jeder Mitarbeiter auf eine bestimmte Aufgabe spezialisiert ist: einer holt den Teig aus der Box, ein anderer bringt ihn in Form, einer schiebt ihn in den Ofen und einer kassiert die Kunden ab. Dazu laufen noch ein Erwachsener und ein Kind durch die Bäckerei, die die Kunden mit Tee versorgen und ihre Fahrräder unter die Lupe nehmen.
Nachdem wir unsere Bestellung gemacht und uns an den einzigen Tisch gesetzt haben, ist an arbeiten aber nicht mehr zu denken, denn alle sind mit uns beschäftigt: Tee und Gebäck servieren, Fahrräder begutachten, Fragen stellen und sich über unsere Antworten unterhalten. Bevor wir weiterfahren dürfen, müssen wir noch Fragen zu unserem liebsten türkischen Fußballclub beantworten und ein Selfie mit der ganzen Crew machen.
Zwischen Börek und Tee haben wir Will, den frierenden Radfahrer vom Vortag, an der Bäckerei vorbei fahren sehen und wollen nun versuchen, ihn einzuholen. Viele Möglichkeiten, ihn zu verfehlen, gibt es nicht, denn wir sind auf der einzigen Straße weit und breit unterwegs.
Sonnenschein und Bären
Es ist ein wunderbarer Tag mit strahlendem Sonnenschein und weiten Ausblicken auf die weißen Schneelandschaften um uns herum. Die Tatsache, dass die Sonne scheint, sorgt nicht nur für gute Stimmung, sondern auch für sehr angenehmere Temperaturen.
Gegen Mittag holen wir Will tatsächlich ein als er gerade eine kleine Pause auf der Straße macht – hier gibt es nicht viele Autos, um die man sich sorgen müsste. Wir fahren zusammen weiter und erzählen uns gegenseitig von unseren Erlebnissen auf der Straße. Will ist vor zehn Monaten in Bhutan gestartet, will unbedingt im März in Indien sein und fährt daher im Schnitt deutlich mehr Kilometer an einem Tag als wir. Er hat viel über seine Zeit in Südostasien und Nordamerika zu berichten und wir lernen, dass man in kanadischen Nationalparks seine Lebensmittel über Nacht in einer Baumkrone lagert, damit die Bären sie nicht stehlen.
Es ist erst halb drei als wir unser Tagesziel Zara erreichen und feststellen, dass wir heute tatsächlich siebzig Kilometer ohne Pause durchgefahren sind. Will hat vorab ein günstiges Hotel gebucht und weil wir selbst noch keine Unterkunft haben, nehmen wir uns das Zimmer nebenan und müssen erstmal überlegen, was wir mit so einem außerplanmäßigen freien Nachmittag anfangen sollen. Die Lösung ist schnell gefunden: essen und schlafen.
Am Abend gehen wir noch zu dritt auf ein paar Lahmacuns in einen örtlichen Imbiss und verabschieden uns voneinander, denn Will plant, am nächsten Morgen zu einer Uhrzeit aufzubrechen, von der wir mehr als sicher sind, dass wir da noch schlafen.
Sibirien
Wir sind mittlerweile in einer der kältestens Regionen der Türkei unterwegs, die man hier mitunter auch als “türkisches Sibirien” [Müsste es dann eigentlich Sübürien heißen?] bezeichnet. Die Gegend ist sehr hoch über dem Meeresspiegel gelegen und aufgrund der noch höheren Gebirgsketten im Norden und Süden kommt keine warme Luft von den Meeren hier an. Die Temperaturen fallen in der Nacht regelmäßig auf zweistellige Minusgrade, weshalb wir nicht großartig darüber nachdenken müssen, ob wir draußen schlafen. Wir haben zwar sehr gute Schlafsäcke und noch bessere Isomatten und auch schon Frost auf dem Zelt gehabt, aber das hier ist uns zu viel.
Allerdings führt uns unsere Route in den nächsten Tagen durch eine Gegend, die äußerst dünn besiedelt ist und in der kaum Hotels zu finden sind, von Warmshowers und Couchsurfing-Angeboten ganz zu schweigen. Über einen Zufall finden wir aber genau zum richtigen Zeitpunkt eine Alternative: Öğretmenevi heißt sie auf türkisch und lässt sich in etwa als Lehrerheim übersetzen. Es ist eine staatliche Organisation, die in vielen Orten in der Nähe einer Schule zu finden ist und günstige Übernachtungsmöglichkeiten bietet, meist im Stil einer Jugendherberge.
2.010 Meter
Das erste Lehrerheim wollen wir am nächsten Tag in der Stadt Suşehri ausprobieren. Es sind nur sechzig Kilometer bis dorthin, aber auf dem Weg liegt der bisher höchste Punkt unserer Reise: der Geminbeli Pass auf 2.010 Metern über dem Meeresspiegel. [Wir würden uns freuen, wenn ihr euch an dieser Stelle einen kurzen musikalischen Einspieler vorstellen könntet, der die Dramatik dieser Aussage unterstreicht. Danke.]
Nachdem wir uns für ein paar Kilometer warmfahren konnten, beginnt der 21 Kilometer lange Anstieg. Es ist nicht gerade ein Kinderspiel, aber es hilft, ein Hörbuch im Ohr zu haben, das von der Anstrengung und unserer eigenen Langsamkeit ablenkt. Und da der Anstieg insgesamt relativ gleichmäßig ist, ist er durchaus machbar.
Auf dem Geminbeli Pass angekommen bläst uns sofort ein eisiger Wind ins Gesicht, der uns daran erinnert, dass wir hier nicht im Kindergarten sind, sondern auf 2.010 Metern Höhe. Im Januar. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen ist es ein unglaubliches Glücksgefühl dort oben zu sein.
Obwohl wir uns noch eine weitere Schicht Kleidung und je zwei Paar Handschuhe anziehen, beginnen wir auf der Abfahrt schon nach wenigen Kilometern zu frieren. Der Gegenwind, der Fahrtwind, die Minusgrade und die Tatsache, dass wir bergab nicht treten müssen, sorgen dafür, dass Hände und Füße vor Kälte schmerzen und wir uns nicht auf die atemberaubend schöne Landschaft mit ihren Bergen und dem Fluss neben der Straße konzentrieren können.
Jugendherberge und Schulspeise
Als wir schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit im Lehrerheim von Suşehri ankommen, werden wir direkt ins Büro vom Chef gebracht und mit Tee versorgt, bevor wir die Formalitäten klären. Weil niemand im Haus Englisch spricht, wird ein Übersetzer am Telefon eingeschaltet, der uns nebenbei erzählt, dass er uns auf dem Weg in die Stadt gesehen hat.
Wir bekommen schließlich ein Doppelzimmer im obersten Stock mit eigenem Bad und die Fahrräder dürfen über Nacht vor dem Büro vom Chef stehen bleiben. Das Haus ist schon etwas in die Tage gekommen, aber dennoch gut gepflegt und gut besucht. Als wir am Abend im Gemeinschaftsraum sitzen, sind bestimmt zwanzig Männer im Nebenzimmer und spielen Okey, ein Spiel, das ähnlich wie Rommé ist, aber mit Steinen gespielt wird, die die Form von Dominosteinen haben.
Der einzige, der nicht mitspielt und sich stattdessen mit uns unterhält, ist Bahadır. Er ist gleichzeitig auch der einzige Mann, den wir in der Türkei kennenlernen, der keinen Gefallen an der allgegenwärtigen Teehauskultur und dem Okey-Spielen findet. Er hat eigentlich ein Haus in Suşehri, wohnt aber momentan im Lehrerheim, weil eine Gasleitung in seiner Küche undicht ist. Bahadır ist ziemlich einsam, weil seine Mutter vor Kurzem verstorben ist, er keine Frau hat und es in einer anatolischen Kleinstadt als Mann schwer ist, Freunde zu finden, wenn man nicht gern mit allen anderen Männern in der Teestube sitzt.
Am nächsten Morgen gibt es Frühstück im Speisesaal, der uns stark an unsere Mittagspausen im Hort erinnert. Es gibt zwar keine Essensausgabe, denn die Teller stehen abgezählt auf einem Buffettisch, aber die Geschirrrückgabe, die zweckmäßige Einrichtung und die scheinbar unverwüstbaren Grünpflanzen ähneln den Schulen im Mecklenburg der Neunziger Jahre doch sehr stark. Allein die Gardinen und Tischdecken sind etwas orientalischer gestaltet.
Schnee und See
Unser Weg an diesem Tag ist angenehm flach und bietet immer wieder schöne Blicke auf die Berge, die in einiger Entfernung parallel zur Straße verlaufen. Am Nachmittag verlassen wir die Bundesstraße erstmal für die nächsten Tage und folgen einer sehr ruhigen Nebenstraße bis zum See bei Gölova, an dem wir zu gern gecampt hätten, wenn da nicht die Schneeschicht und diese verdammten Minusgrade wären.
Gölova ist ein Ort irgendwo im Nirgendwo mit 2.200 Einwohnern. Hier gibt es kein Hotel und Touristen, vor allem ausländische, trifft man hier eher selten an. Die Kinder, die gerade auf ihren Schlitten die Straße herunter rodeln, die wir hinauf radeln, werden dementsprechend sofort auf uns aufmerksam und wissen direkt, dass wir zum Lehrerheim wollen. Sie begleiten uns auf dem Weg dorthin, während sie uns auf türkisch belustigen und alle europäischen Fußballclubs aufsagen, die sie kennen.
Das hiesige Lehrerheim ist nagelneu, wahrscheinlich noch kein halbes Jahr alt, und wir bekommen nach einem frisch gebrühten türkischen Kaffee beim Einchecken ein Zimmer, das fast ein eigenes kleines Apartment ist und über einen Balkon mit Blick auf den See verfügt. Und zwar für einen Preis, der in Europa wahrscheinlich zehnmal so hoch wäre. Wir freuen uns über diesen Luxus, wollen nur kurz etwas essen gehen und den Rest des Tages gemütlich auf der Couch sitzen und den Ausblick genießen.
Warum wir in die Hölle kommen
Als wir allerdings nach unserem Rundgang durch den Ort zurück kommen, winkt uns der Chef nochmal zu sich. Sein Chef bezweifelt aufgrund unserer unterschiedlichen Nachnamen, dass wir verheiratet sind, weshalb wir uns in seinem Haus kein Zimmer teilen dürften. Wir überlegen kurz, ob das hier noch das gleiche Land ist, in dem vor Kurzem ein fast nackter Mann in unserem Hotelzimmer saß. Anschließend wägen wir ab, ob wir argumentieren sollten, dass wir uns mittlerweile für alt genug halten, selbst zu entscheiden, ob wir für voreheliches Zimmerteilen in die Hölle kommen wollen, entscheiden uns aber für eine andere Strategie.
Wir sagen, dass wir unsere Verwandten in Deutschland kontaktieren, damit sie uns eine Kopie unserer Heiratsurkunde aufs Handy schicken. Damit ist der Chef einverstanden und wir haben genug Zeit, um auf unserem Zimmer ein Dokument zu erstellen, mit dem der Chef vom Chef zufrieden ist, sodass wir heimlich und in Sünde ein Zimmer teilen und sogar im gleichen Bett schlafen können. Im Vorfeld haben uns viele Freunde und Bekannte unterstellt, dass wir auf unserer Reise heiraten werden. Nun ja, zumindest haben wir jetzt ein Dokument, das dies auch behauptet.
Leider wird es nicht die entspannte Nacht, die wir uns gewünscht haben. Etwa zehn Minuten, nachdem wir ins Bett gegangen sind, beginnt die Alarmanlage mit einem Stück, das den Titel „Bleibt wach und lauscht meinem Lieblingsalarm“ trägt und erst am nächsten Morgen endet.
Wir wissen es natürlich nicht ganz genau, denken aber, dass die Alarmanlage durch eine Erschütterung ausgelöst wurde, die mit einem Erdbeben in etwa zweihundert Kilometern Entfernung in der Region Elazığ zusammenhängt. Viele Menschen sind dabei getötet oder obdachlos geworden und uns wird einmal mehr bewusst wie wichtig Gesundheit und wie unwichtig Konflikte über das Zimmerteilen und Heiraten sind.
Ein paar Daten
- Kilometerstand: 9.472 km
- Streckenverlauf: Belek – Göreme – Kayseri – Sivas – Zara – Suşehri – Gölova
- Übernachtungen: 1 x Bus, 2 x Couchsurfing, 2 x Hotel, 2 x Lehrerhaus
- Zeitraum: 18. – 25. Januar 2020
In eigener Sache
Wie du vielleicht weißt, finanzieren wir unsere Fahrradweltreise komplett selbst und haben keinen großen Sponsor, der uns versorgt. Wir haben einen Betrag gespart, mit dem wir erstmal eine Weile leben können. Dennoch wollen wir versuchen, über unseren Blog einige Einnahmen zu generieren, um die Website am Laufen zu halten und einige Kosten zu decken, die auf der Reise anfallen. Erfahrungen zeigen, dass man durchschnittlich mit etwa zehn Euro pro Person und Tag rechnen kann, womit dann neben der Verpflegung auch Anschaffungen, Reparaturen, Visa etc. abgedeckt sind. Falls du Lust hast, uns dabei zu unterstützen, kannst du ganz einfach über [diesen Link] einen selbst bestimmten Betrag per Paypal an uns senden. Wir freuen uns über jeden Euro!
Sehr schön und spannend was Ihr da beide erlebt habt. Die Gastfreundschaft in der Türkei ist sehr hoch weil das Wissen die wenigsten Leute. Schön das Ihr das mal hier so Richtig gut beschreibt.
Mit den schönen Bildern und den sehr guten Text dazu würde ich Euch empfehlen ein Buch zu schreiben über die Erlebnisse in der Türkei. “ Rausgefahren “ hat das ja auch gemacht mit einen Buch über die Reise durch den Iran.
Viele Grüße aus Thüringen nach Baku und bleibt Gesund,
Udo
Hallo Udo,
lieben Dank, das hören wir gern. Vielleicht wird es irgendwann tatsächlich mal ein Buch geben, aber aktuell ist das noch kein Thema bei uns. 🙂
Viele Grüße nach Thüringen und auch dir und deinen Lieben viel Gesundheit!