Estland III – oder: Über den Norden nach Süden

Nun ist es also schon soweit, dass wir Estland nach dreieinhalb Wochen wieder verlassen. Und trotz zweier ausführicher Beiträge haben wir das Gefühl, euch noch viel zu wenig von dem Land selbst erzählt haben, in dem wir uns nun schon seit fast einem Monat herum treiben.

Wie viel Glück wir haben, dass wir von Anfang an vom RMK (dem estnischen Waldmanagement) und dessen App wussten, hatten wir ja bereits berichtet. Aber es sind nicht nur die Campingplätze, die die Arbeit des RMK so wichtig machen. Auch Waldhütten, Lagerfeuerstellen, Naturpfade, Fahrradwege und Besucherzentren bereichern unsere Reise. Diese ganzen Einrichtungen sind für jedermann zugänglich, kostenfrei und super gepflegt, denn jeder hinterlässt die Orte, wie er sie selbst vorfinden möchte. Wir konnten uns immer darauf verlassen, dass wir einen schönen und sauberen Ort vorfanden, wenn wir eine RMK-Einrichtung als Ziel hatten.

Aber daneben gibt es noch so viele andere Dinge, die dieses Land ausmachen:

Dass die Ostsee hier zwischen Sandstrand, Steilküste und Steinufer eine sehr große Erscheinungsvielfalt hat.

Dass die Sprache für uns fast vollkommen unverständlich ist, aber mit Worten wie Vorst, Politsei und Gümnaasium daherkommt.

Dass wir trotzdem kaum Verständigungsprobleme haben, weil hier fast jeder Englisch spricht.

Dass die Esten unheimlich viele Gerichte mit Käse verfeinern.

Dass wir das traditionelle estnische Kama entdeckt haben – ein Pulver aus verschiedenen Getreidesorten, das man in den Joghurt rüht und das dann nach flüssigem Knäckebrot schmeckt.

Dass die meisten Leute auf den ersten Blick eher abschätzig schauen, man aber immer ein ehrliches Lächeln zurück bekommt, wenn man selbst freundlich lächelt und grüßt.

Dass die Orte, Gärten und Parks alle liebevoll und detailliert gepflegt werden.

Dass Estland ein ziemlich teures Land ist.

Dass es hier unfassbar viele unfassbar aufdringliche Fliegen gibt und dass die kleinsten Mücken die größten Stiche verursachen.

Dass es hier nachts echt dunkel wird.

Tallinn

Unsere Tage in Tallinn verbringen wir damit, unsere Ausrüstung zu optimieren und organisieren. Wir nutzen die Gelegenheit, mal wieder eine Adresse zu haben, um einige Bestellungen zu machen – z.B. ein Solarmodul, um unsere Powerbanks mit Sonnenenergie zu laden – und sortieren im Gegenzug eine Menge Zeug aus: das jeweilige Zweitpaar Schuhe, unsere Fahrradhosen, die wir in Deutschland zuletzt getragen haben, viel Kleidung, Gewürze, ein bisschen Küchenkram (Alufolie, Kaffeelöffel, Flaschenöffner) und unsere Besucherteller. Das meiste davon lassen wir für zukünftige Gäste im Apartment und die Kleidung gibt die Vermieterin in die Kleiderspende.

Außerdem bekommt Denis‘ Hinterrad eine neue Felge, das Fahrrad einen neuen Ständer und die Gepäckträger eine Verstärkung an den Stellen, an denen die Taschen scheuern. Ein paar Tage später trennen wir uns gedanklich von unseren Wassersäcken, denn die sind unhandlich, schwer und undicht, und vom zuständigen Kundenservice ist nicht viel zu hören. Wir haben sie zum Duschen noch bei uns, aber den Wassertransport regeln wir über Flaschen.

Als es an der Zeit ist, wieder aufzubrechen, haben wir es nicht geschafft, die Stadt zu erkunden oder mal einen Ausflug in die Altstadt zu machen. Das holen wir am Tag der Abfahrt mit vollgepackten Rädern nach, was sehr unkonfortabel ist, weil die Altstadt vollkommen überlaufen ist mit Touristen und ans Fahren gar nicht zu denken ist.

Deshalb kommen wir allerdings vor einer Kirche ins Gespräch mit einem Paar aus Kanada, von dem wir zum Andenken einen kleinen Pin in Form der kanadischen Flagge geschenkt bekommen, der nun Denis‘ Hecktasche ziert.

Zum Abschied geht es über das Schloss zur Promenade, von wo aus wir einen letzten Blick auf die Stadt werfen können, bevor die Reise weiter geht.

Ostsee

Obwohl uns die zweite Etappe in den Süden ans Mittelmeer bringen soll, bleiben wir für zwei weitere Tage an der Ostsee, weil wir die Spitzen des Laheema Nationalparks abfahren wollen und es passend finden, nochmal den nördlichsten Punkt des estnischen Festlandes zu erkunden, bevor es wirklich in den Süden geht.

Wir haben zwei entspannte Tage voll Sommer, Sonne, Strand und genießen die Zeit an der Küste, auch wenn uns eine Blasenentzündung an einem Tag etwas bremst. [Zum Glück hatten wir noch ein Wundermittel im Gepäck, das wir letztes Jahr in Armenien erstehen konnten und das fast sofort für Abhilfe sorgt.]

Der nördlichste Punkt des estnischen Festlandes und vorerst auch unserer Reise trägt den Namen Purekkari und wie nicht anders zu erwarten ist, befindet sich natürlich genau dort ein RMK-Campingplatz, an dem wir einen Platz in bester Lage zwischen drei deutschen Campern finden.

Nachdem wir im Ort Võsu Hansas Heimspiel gegen Großaspach am Strand verfolgen konnten (oder mussten?), verlassen wir die Ostsee entgültig und gelangen über einen Offroad-Trail, der mit dem Mountainbike wahrscheinlich richtig Spaß macht, für das beladene Fahrrad aber das eine oder andere Hindernis bereit hält, nach Oandu.

Nicht mehr Ostsee

Nach einer Nacht auf dem hiesigen RMK-Campingplatz begeben wir uns ins 300 Meter entfernte RMK-Besucherzentrum, wo wir aus dem Brunnen Trinkwasser schöpfen und Äpfel aus dem Garten essen.

Anschließend stellen wir fest, dass der Wind mit uns die Richtung geändert hat und nun direkt daher kommt, wo wir hin wollen. Aus Süden. Und weil wir mal ausnahmsweise nicht durch den Wald fahren, sondern über einige bereits gemähte Felder, haben wir richtig viel davon. Ein Traum.

In der Nähe der Stadt Rakvere geht es auf einen Campingplatz am See, der neben den Annehmlichkeiten der anderen Plätze zusätzlich mit einem Grill in Form eines Igels auf uns wartet.

Am nächsten Morgen treffen wir beim Abwaschen eine Frau, die mit ihrem Bruder und ihrer Mutter unterwegs ist und uns erzählt, dass sie genau hinter der Stelle, an der wir die Nacht verbracht haben, als Kind fast ertrunken wäre und gerade mit ihrer Familie auf Erinnerungstour ist.

101 km

Weil wir an diesem Tag für unsere Verhältnisse früh losfahren (gegen halb elf), weil es unterwegs nicht viel zu sehen gibt und vor allem weil wir es können, haben wir am Abend mal wieder eine dreistellige Zahl auf dem Tacho: 101 Kilometer.

Zum Großteil geht es über asphaltierte Nebenstraßen, ein kurzes Stück über die Autobahn und einen längeren Abschnitt über den festen Schotter der Waldwege des RMK, auf dem wir auf zwanzig Kilometern ungefähr dreimal abbiegen und ansonsten auf keinerlei Kurven oder Biegungen treffen.

Zwischendurch holt uns ein Regengebiet ein, vor dem wir nur eine Zeit lang flüchten konnten. Und weil es nicht den Hauch einer Unterstellmöglichkeit gibt, legen wir eine Pause ein, ziehen die Regenjacken an und essen eine Kleinigkeit, denn essen hilft immer. Und wie wir so da stehen und die Ruhe aufnehmen, die der Wald ausstrahlt, in dem wir uns befinden, überlegen wir, ob wir nicht kürzlich noch gelesen hatten, dass in Estland wilde Bären leben.

See

Ohne einen Bären, dafür aber ein Eichhörnchen/Mader/wir-sind-uns-nicht-einig-was-es-war-Tier gesehen zu haben, erreichen wir am Abend den Peipus See, der der fünftgrößte See Europas ist, die Grenze zu Russland bildet und uns mit seinem Kiefernwald, dem Sandstrand und den Wellen sehr stark an die Ostsee erinnert.

Ein Bad im See am nächsten Morgen bringt die Erkenntnis, dass dessen Ufer ebenso flach ist wie das der Ostsee und ein längerer Spaziergang vonnöten ist, um eine schwimmbare Tiefe zu erreichen. Allerdings ist das Wasser voller kleiner grüner kugelförmiger Algen, die das Bad deutlich verkürzen.

Den Tag verbringen wir zu einem Großteil auf der Autobahn, die sich durch ihre besondere Kurvenlosigkeit und der damit einhergehenden Anfälligkeit für Gegenwind auszeichnet. Der Höhepunkt der Langeweile ist erreicht als das Navi anzeigt „in 21 km geradeaus“.

Es ist der 20. August und damit der Nationalfeiertag, an dem man in Estland die Wiedererlangung der Unabhängigkeit feiert. Zu diesem Anlass hängt die estnische Flagge an den meisten Wohnhäusern. Nur in den russischen Vierteln der Städte suchen wir sie vergeblich.

Nach einigen abwechslungsreicheren Auf- und Abfahrten der hiesigen Hügel erreichen wir unser Ziel für den Tag: eine Hütte im Wald, an der wir das Lagerfeuer der Familie übernehmen können, die gerade am Aufbrechen ist, und unser Lager auf dem Dachboden der Feuerholzhütte aufschlagen können.

Regen

Am nächsten Morgen zeigt sich, dass es eine gute Entscheidung war, in der Hütte statt im Zelt zu übernachten, denn nach dem Frühstück beginnt es zu regnen, während das Zelt fröhlich trocken in der Tasche liegt.

Es soll den ganzen Tag nicht wirklich aufhören zu regnen, weshalb wir viel fahren, um in Bewegung zu bleiben, und kurzfristig einen Warmshowers-Host (Warmshowers ist ein Plattform, auf der Radfahrer anderen Radfahrern eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit anbieten) suchen und glücklicherweise auch finden.

Wir kehren bei Julia und ihrem Mann Indrek ein, die mit ihrer kleinen Tochter auf einem Hof mitten im Wald nahe Tartu leben und bereits die Sauna angeheizt haben, als wir ankommen. Das ist ein großartiges Kontrastprogramm zu unserer durchnässten Kleidung und wir können kaum glauben, welches Glück wir wieder einmal haben.

Den Abend verbringen wir gemeinsam – Julia hat für alle gekocht und wir hören einige interessante Geschichten über ihre Fahrradreisen in Europa, Bisons in Polen und Regen in Finnland. Später zeigt uns Indrek seine Münzensammlung, die eine Münze aus dem Jahr 1666, ein Exemplar aus der Zeit der russischen Zaren und ein paar Reichspfennige beinhaltet.

Die Wälder um Tartu herum sind nämlich Schauplätze von Schlachten in mehreren Kriegen gewesen und deshalb voller Münzen, Ringe und Munition. Indrek geht regelmäßig mit dem Metalldetektor auf die Suche, aber meistens findet er nur Deckel von Wodkaflaschen, denn die sind hier ebenfalls weit verbreitet.

Gebirgsfahrten

Am nächsten Tag erkunden wir die Stadt Tartu, die mit knappen 100.000 Einwohnern die zweitgrößte des Landes ist, und sehr angenehm unaufgeregt daherkommt. In der Nähe des Stadtkerns befindet sich ein Sportpark, in dem es Fahrradstrecken, Fitnessgeräte, eine BMX-Strecke und im Winter Langlaufloipen für jedermann gibt.

Der Stadtkern selbst ist voller Restaurants und kleiner Geschäfte und auf dem Hügel der Stadt befinden sich die Grundmauern einer mittelalterlichen Kirche.

Am Nachmittag erreichen wir das Anwesen Luke, das schon seit dem 12. Jahrhundert besteht und mittlerweile zu einem Park geworden ist, der zwar sehr schön ist, aber mitten im Nirgendwo liegt. Das Haupthaus ist leider verfallen, dafür sind einige Nebengebäude erhalten und renoviert und im Apfelgarten können wir unseren Obstvorrat auffüllen.

Unser Ziel für diesen Tag ist eine Hütte in der Nähe der Stadt Otepää an einem See und auf dem Weg dorthin müssen wir die einzigen beiden Berge des Landes überwinden. Am Abend haben wir 380 Höhenmeter gemacht, über die wir irgendwann wahrscheinlich nur sehr müde grinsen werden, die uns nach zwei Monaten ohne nennenswerten Anstieg aber schon sehr alpin daherkommen.

Wir beschließen, einen Tag Pause einzulegen, um ein paar Dinge zu erledigen, die Muskeln nach 300 Kilometern in vier Tagen zu entspannen und ein bisschen an den Fahrrädern zu schrauben. Denis‘ Rad hat nämlich angefangen zu knacken und wir glauben, dass es an der einen Speiche am Vorderrad liegen könnte, die gebrochen ist.

Es ist wirklich zum Verzweifeln: während Anikas Fahrrad noch so gut wie original ist, kommt bei Denis fast wöchentlich etwas neues dazu: neue Felge vorn in Kaliningrad, neue Felge hinten in Tallinn, zwei neue Ständer in Polen, ein neuer in Estland, jetzt erneut eine gebrochene Speiche, das Knacken. Es ist wirklich ermüdend und wir können uns nicht erklären, warum immer wieder etwas neues dazu kommt.

Lettland

Nach der Pause an der Hütte soll es nun also weitergehen nach Lettland und dann über Litauen nach Polen in die Masuren. Wir sind gespannt, was die nächsten Wochen bringen werden, und freuen uns auf die nächsten Ergebnisse.

Ein paar Daten

  • Kilometerstand: 3.383 km
  • Strecke (grob): Tallinn – Rakvere – Kauksi – Tartu – Otepää
  • Übernachtungen: 2 x Apartment, 7 x Zelt, 1 x Hütte, 1 x Warmshowers

In eigener Sache

Wie ihr vielleicht wisst, finanzieren wir unsere Fahrradweltreise komplett selbst und haben keinen großen Sponsor, der uns versorgt. Wir haben einen Betrag gespart, mit dem wir erstmal eine Weile leben können. Dennoch werden wir bald versuchen, über unseren Blog einige Einnahmen zu generieren, um die Website am Laufen zu halten und einige Kosten zu decken, die auf der Reise anfallen. Erfahrungen anderer Reisender zeigen, dass man durchschnittlich mit etwa zehn Euro pro Person und Tag rechnen kann, womit dann neben der Verpflegung auch Anschaffungen, Reparaturen, Visa etc. abgedeckt sind. Falls ihr Lust habt, uns dabei zu unterstützen, könnt ihr ganz einfach über [diesen Link] einen selbst bestimmten Betrag per Paypal an uns senden. Wir freuen uns über jeden Euro!

Von Anika

Irgendwas mit Fahrradfahren.

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