Ungarn – oder: Im Land der platten Reifen

Wir erreichen Ungarn gegen Mittag an einem warmen Mittwoch Anfang Oktober und wollen direkt in der ersten Stadt auf unserem Weg – Salgótarján – eine ungarische Sim-Karte kaufen, denn unser deutscher Vertrag ist Ende September ausgelaufen. Dazu suchen wir einen magentafarbenen Laden in der Innenstadt auf und stören bereits mit unserem Eintreten die nachmittägliche Ruhestunde des Personals.

Der lange Weg zur Sim-Karte

Es ist es kleiner Laden mit zwei jungen Beraterinnen ohne weitere Kundschaft. Wir tragen auf Englisch unser Anliegen vor und erhalten als Antwort zwei Paar verdrehte Augen und genervtes Gestöhne. Das Arbeiten scheint also schon mal nicht zu den Tätigkeiten zu gehören, die die beiden Damen auf der Arbeit gern ausführen.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass wir kein Ungarisch sprechen und nach einigen Tagen ohne Dusche vielleicht auch nicht ganz frisch aussehen. Genügend Gründe also, uns möglichst schnell abzuwimmeln. Man fragt uns, ob wir eine ungarische Adresse hätten und ist untröstlich als wir das verneinen. Da könnte man leider gar nichts machen, denn ohne diese könne man in Ungarn keine Sim-Karte kaufen.

Das ist natürlich Blödsinn. Das wissen die beiden, das wissen wir. Wir stellen ein paar Fragen dazu, bringen unsere Ungläubigkeit zum Ausdruck und lungern erstmal noch ein bisschen im Laden herum, weil es dort ein öffentliches WLAN-Netz gibt.

Schließlich verlassen wir den Shop wieder, sprechen darüber, dass wir es um die Ecke bei einem anderen Anbieter versuchen wollen, dessen Namen wir extra ein paar Mal erwähnen, und werden nach kurzer Zeit wieder in den Laden zurück gewunken. Plötzlich können wir doch eine Sim-Karte erwerben – das ist für eine der Beraterinnen mit relativ viel Arbeit verbunden, denn es müssen viele Daten eingegeben und viele Seiten Papier unterschrieben werden, aber am Ende sind wir doch wieder mobil erreichbar.

Was ein unnötiges Theater. Unser Start in Ungarn ist also erstmal etwas holprig. Dazu ist Salgótarján städtebaulich in den 1980er Jahren der Sowjetunion stehen geblieben: es ist ein graues Meer aus Plattenbauten und Bürgersteigen voller Schlaglöcher mit viel zu hohen Bordsteinen, die man erst als Fahrradfahrer richtig zu verabscheuen lernt. Als wir den Ortsausgang erreichen, sind wir erstmal einigermaßen genervt.

Wellness

Als es dann noch zu regnen beginnt, während wir das Zelt aufbauen, und aufhört als wir durchnässt sind und das Zelt steht, ist die Stimmung auf dem Höhepunkt. Weil uns schlechte Laune allerdings auch nicht weiter bringt, entscheiden wir schließlich, einfach das beste aus der Situation zu machen, und nutzen den Umstand, dass wir sowieso schon nass sind, um zu duschen.

Wir befinden uns auf einem sichtgeschützten Feld, haben genug Wasser dabei und funktionieren einen Strohballen zur Duschstange um, in dem wir die gefüllten Wassersäcke einfach oben drauf legen. Als wir danach frisch geduscht in den warmen Schlafsack steigen, haben sich die Gemüter bereits wieder beruhigt.

Ungarn für Anfänger

In den nächsten Tagen bewegen wir uns auf Budapest zu und beginnen, uns an Ungarn zu gewöhnen. Wir schlängeln uns an der Autobahn M21 entlang durch kleine Orte, in denen regelmäßig verlassene, verfallene oder stark in Mitleidenschaft gezogene Häuser zwischen den bewohnten stehen. In den meisten Dörfern sind auch tagsüber viele Menschen auf der Straße oder im Garten beschäftigt und fast alle Orte verfügen über Trinkwasserspender, die wir in unserer Zeit in Ungarn sehr zu schätzen lernen, weil wir dadurch nie sonderlich viel Wasser transportieren müssen.

Schwierig wird es zuweilen mit der Sprache. Waren in unseren bisher besuchten Ländern noch viele Wörter aus anderen Sprachen abzuleiten, ist das hier in Ungarn nun absolut unmöglich geworden. Das Ungarische verfügt über Ös und Üs in verschiedenen Schreibweisen, die großzügig und offenbar willkürlich über den gesamten Wortschatz verteilt sind. Das einfache s wird wie sch ausgesprochen, will man ein einfaches s zum Ausdruck bringen, benötigt man ein sz. Und das Wort für Polizei, das in allen Sprachen der Welt Polizei, Police, Polizia oder ähnlich lautet, heißt hier Rendőrség. Dazu passt der unbequeme Umrechnungskurs von 1:335 (1 Euro = 335 Forint) aber immerhin ganz gut ins Bild.

Im Supermarkt geht es also hauptsächlich darum, Produkte mit einem Bild auf der Verpackung auszuwählen und zumindest grob abzuschätzen, ob diese mehr oder weniger als einen Euro kosten.

Budapest

Nachdem wir ein paar Nächte auf abgeernteten Feldern und eine Nacht neben Autobahn und Bundesstraße verbracht haben, erreichen wir Budapest nach einer Regenfahrt und steuern direkt unsere Unterkunft an. Wir haben nämlich für ein paar Nächte eine Wohnung am Stadtrand gemietet, um mal wieder Pause zu machen und Besuch zu empfangen. Philipp, ein Freund von Denis und ehemaliger Trainerkollege, kommt am nächsten Tag dazu und hat sogar sein Fahrrad im Gepäck.

Zuvor nehmen wir unsere Bleibe unter die Lupe und stellen fest, dass wir das nicht ganz so genau machen sollten, denn Dusche und Küche sind nicht direkt klinisch rein. Dafür aber haben wir zwei Kaffeebecher vom deutschen Volksmusiksänger Ronny Platin, mehr Stäbchen als Besteck und einen Wasserkocher mit viel zu vielen Knöpfen, die alle chinesisch beschriftet sind.

Wir nutzen den ersten Tag, um Hansas Sieg gegen Meppen zu sehen, zu viel Pizza und Wein zu konsumieren und Denis‘ Haare und Bart zu stutzen, nachdem wir schon zwei Wochen zuvor eine Haarschneidemaschine gekauft hatten. Glücklicherweise kommt der Wein erst nach der Rasur, sodass sich das Ergebnis durchaus sehen lassen kann.

Nachdem Philipp dann schließlich dazu gekommen ist, besuchen wir ein Fußballspiel zwischen Honved und Ferencvaros, das mit einem gerechten wie schlechten 0:0 endet und erkunden die Stadt zu Fuß, mit der Fähre und dem Fahrrad.

Platter Reifen, die erste und zweite

Als wir dann am Morgen nach unserer letzten Nacht im Apartment aufbrechen wollen, gibt es einen kleinen Dämpfer: Anikas Vorderreifen ist platt. Weil wir erstmal kein Loch im Schlauch finden können, halten wir es für ein Problem mit einem nicht fest genug verschraubten Ventil und pumpen den Reifen einfach wieder auf.

Nach sieben Kilometern müssen wir dann allerdings feststellen, dass es sich hier um eine Fehleinschätzung handelt, denn der Reifen ist erneut platt. Zum Glück befinden wir uns zu diesem Zeitpunkt auf einem Weg neben einem kleinen Bach, in dem wir dann auch die beiden Löcher im Schlauch finden können. Unterdessen werden wir von allen Passanten interessiert beäugt und bekommen von einigen anderen Radfahrern Hilfe oder sogar einen Reserveschlauch angeboten.

Nachdem Rad und Gepäck wieder an Ort und Stelle sind, geht es weiter. Allerdings nur für vier Kilometer, denn der Reifen verliert wieder Luft. Wir sind mittlerweile geübt darin, das Fahrrad zu entpacken, umzudrehen und das Rad auszubauen und kommen diesmal auch auf die Idee, mal im Mantel zu schauen, ob da vielleicht etwas zu finden ist, was erneut ein Loch in den Schlauch gepiekt haben könnte. Es scheint noch nichts durch den Mantel gekommen zu sein, dafür gibt es aber zwei rauhe Stellen, die wir glätten, was zu helfen scheint, denn danach gibt es keinerlei Probleme mehr.

Weiter nach Kecskemét

Mittlerweile ist es nach 15:00 Uhr und wir haben elf Kilometer auf dem Tacho. Damit wir wenigstens noch ein bisschen vorankommen, wollen wir jetzt Gas geben, was mit heilen Reifen und einer leicht abschüssigen Strecke ganz gut klappt. Dass wir am Abend ein Schild passieren, das Budapest in drei Kilometern Entfernung anzeigt, passt allerdings ganz gut ins Bild dieses Tages. Später finden wir eine Stelle im Wald, auf der zwei Zelte und offenbar auch eine ganze Menge andere Waldbewohner Platz finden. An Geräuschen von außen mangelt es in dieser Nacht jedenfalls nicht.

Nachdem wir den ganzen nächsten Vormittag lang durch ein Wein- und Apfelanbaugebiet gefahren sind und uns vor allem in kleineren Orten aufgehalten haben, ändern wir am Nachmittag unsere Taktik. Es beginnt nämlich zu regnen und soll den Rest des Tages nicht aufhören. Wir wechseln also auf die Bundesstraße, die unerträglich stark befahren ist, und reißen die restlichen Kilometer bis Kecskemét ab, das wir eigentlich erst am nächsten Tag erreichen wollten, sodass am Ende des Tages über achtzig Kilometer notiert werden können.

Platter Reifen, die dritte

Unseren letzten gemeinsamen Tag wollen wir dafür nutzen, uns Kecskemét anzuschauen, bevor Philipp am Nachmittag mit dem Zug zurück zu seinem Auto fahren will, das in Budapest auf ihn wartet. Leider kommen wir nicht allzu weit, denn auf Höhe des ersten Schlaglochs ertönt ein Knall, dann ein Fluch. Philipps Hinterreifen ist geplatzt.

Da wir ja mittlerweile relativ geübt im Auffinden und Flicken von Löchern sind, machen wir uns nicht allzu viele Sorgen, bauen das Rad aus und finden die Stellen relativ schnell. Einzig eine Luftpumpe fehlt, denn unsere passt nicht auf das Ventil.

Hier kommt wieder ein hilfsbereiter Ungar ins Spiel, vor dessen Grundstück der Unfall passiert ist, und der bereits mit einer geöffneten Bierdose an seiner Einfahrt steht und uns beobachtet. Er hat die passende Pumpe, eine Wanne mit Wasser, um noch ein weiteres Loch zu finden, und eine Pressvorrichtung, mit der die Flicken auf den Schlauch gedrückt wird. Zusätzlich bietet er uns sogar noch Kaffee, Wasser und seine Toilette an.

Wir bedanken uns bei ihm und wollen nun wirklich in die Stadt, kommen aber nur bis zum nächsten Schlagloch, an dem sich die Szenerie wiederholt. Schließlich brechen wir den Versuch ab, bringen Philipp zum Bahnhof und verabschieden ihn dort. Es stellt sich später heraus, dass man Kecskemét auch mit ungeplatzten Reifen durchqueren kann, die Stadt sehr sehenswert ist und durchaus auch von vielen Touristen besucht wird, die sich im Stadtzentrum verschiedenen Führungen angeschlossen haben.

Paprika und Fische

Hinter Kecskemét erreichen wir die Puszta, eine Region, die für Landwirtschaft und vor allem den Anbau von Gemüse bekannt ist, und streckenweise ganz toll nach Paprika riecht. Für eine Nacht schlagen wir unser Lager auf einer kniehoch bewachsenen Wiese auf und radeln schließlich weiter bis an den Rand von Szeged.

Hier campen wir am Rand der Fischteiche, die vor der Stadt liegen und ein sehr großes Gebiet einnehmen. Die Teiche sind künstlich angelegt und wir haben am nächsten Morgen die eine oder andere Schwierigkeit, erst zurück auf den Weg und schließlich aus der Anlage herauszufinden, denn der geplante Weg endet vor einem verschlossenen Tor und die Alternative, die wir wählen, auf dem Gelände der Fischfabrik. Diese hält glücklicherweise ein offenes Tor für uns bereit, obwohl Sonntag ist.

Platter Reifen, die vierte

Kurz vor dem Ortseingang von Szeged gibt es nun zum dritten Mal in diesem Land einen Reifen zu flicken und dieses Mal gilt es schon eine höhere Schwierigkeitsstufe zu meistern: es ist der Hinterreifen (Kette zu beachten), es gibt kein Wasser (Loch mit bloßem Auge finden) und auch sonst keine Hilfe von außen (Gewerbegebiet am Sonntagnachmittag).

In Boxenstoppgeschwindigkeit geht dieser Zwischenfall aber die Bühne, sodass wir noch genügend Zeit finden, eine große Runde durch Szeged zu drehen, was sich durchaus lohnt, eine Mittagspause einzulegen und unsere letzten Forint für Eis an einer Tankstelle zu investieren, bevor wir am Nachmittag die Grenze zu Serbien erreichen.

Ein paar Daten

  • Kilometerstand (am Ende der Etappe): 5.910 km
  • Strecke (grob): Salgótarján – Budapest – Kecskemét – Szeged
  • Übernachtungen: 6 x Zelt, 3 x Apartment, 1 x Pension
  • Zeitraum: 2. – 12. Oktober 2019

In eigener Sache

Wie ihr vielleicht wisst, finanzieren wir unsere Fahrradweltreise komplett selbst und haben keinen großen Sponsor, der uns versorgt. Wir haben einen Betrag gespart, mit dem wir erstmal eine Weile leben können. Dennoch werden wir bald versuchen, über unseren Blog einige Einnahmen zu generieren, um die Website am Laufen zu halten und einige Kosten zu decken, die auf der Reise anfallen. Erfahrungen anderer Reisender zeigen, dass man durchschnittlich mit etwa zehn Euro pro Person und Tag rechnen kann, womit dann neben der Verpflegung auch Anschaffungen, Reparaturen, Visa etc. abgedeckt sind. Falls ihr Lust habt, uns dabei zu unterstützen, könnt ihr ganz einfach über [diesen Link] einen selbst bestimmten Betrag per Paypal an uns senden. Wir freuen uns über jeden Euro!

Von Anika

Irgendwas mit Fahrradfahren.

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