Georgien I – oder: Viele Kühe, viele Kilometer und viel Wasser

[Wir nennen in diesem Blogbeitrag den Namen einer Marke für Fahrradteile und verlinken ein Hostel, was wir als Werbung kennzeichnen müssen. Wir verdienen damit kein Geld, wollen unsere Hosts in Khashuri aber gern unterstützen und fänden es albern, den Markennamen nicht zu nennen.]

Unsere ersten Tage in Georgien verbringen wir in einem Hostel in der Hafenstadt Batumi, die gern das Las Vegas des Ostens sein möchte und dementsprechend mit allerhand hohen Häusern und Türmen daherkommt. Eigentlich wollten wir nur für zwei Nächte hier bleiben, um erstmal in Georgien anzukommen, uns zu entspannten und Wäsche zu machen. Am Ende bleiben wir fast eine Woche, weil wir doch ein bisschen mehr Ruhe brauchen als wir dachten, und weil das Wetter echt bescheiden ist.

Fahrradketten und Corona

Wir pendeln in diesen Tagen größtenteils zwischen dem Aufenthaltsraum voller Sitzsäcke und unseren Betten im Achterschlafsaal. Wenn das Wetter es zulässt, fahren oder laufen wir durch die Altstadt, über den Boulevard oder zum Europaplatz im Zentrum. Wir kennen die Stadt bereits von einer früheren Reise und wissen daher schon, was sie so zu bieten hat, sind allerdings überrascht wie leer sie jetzt im Winter wirkt.

Weil das Tretlager an Denis’ Fahrrad wieder zu knacken begonnen hat, fahren wir an einem Tag zu einem Fahrradladen in der Innenstadt. Bei der Gelegenheit wollen wir auch gleich mal bei einem Fachmann nachfragen, ob es nicht langsam an der Zeit wäre, eine neue Kette aufzuziehen. Wir sind mittlerweile fast 10.000 Kilometer mit der jeweils ersten Kette gefahren und haben das Gefühl, dass man diese vielleicht mal austauschen sollte.

Der befragte Fachmann misst die Dehnung von Denis’ Kette – offenbar wird so eine Fahrradkette durch die Belastung beim Fahren länger – und eröffnet uns, dass diese mittlerweile so dermaßen durchgenudelt ist, dass sie bereits alle Zahnkränze abgenutzt hat, und die Schaltung komplett ausgetauscht werden muss. Eine neue Kette würde auf diesen Zahnkränzen nur verkeilen und verspringen. Toll, wieder was gelernt. [Falls ihr es nicht wisst: wir sind als absolute Fahrrad-Laien in Deutschland losgefahren und haben auf das Prinzip “Learning by doing” gesetzt.]

Unser Fachmann hat allerdings keine Teile von Shimano auf Lager und rät uns, unser Glück in Tiflis zu versuchen. Auf Nachfrage gibt er aber zu, dass er nicht glaubt, dass die Kette noch viel länger als hundert Kilometer durchhalten wird. Als wir ihn fragen, ob er sie trotzdem nochmal ölen würde, lacht er ein bisschen so als hätten wir ihn gefragt, ob es helfen würde, einem toten Hund einen Knochen ins Maul zu legen, damit er wieder Stöckchen holt.

In Batumi kommen wir zum ersten Mal direkt mit dem Coronavirus in Kontakt. Bis hierhin kannten wir diesen Krankheitserreger nur aus den Nachrichten und hatten nicht wirklich damit gerechnet, dass wir hier in Georgien damit konfrontiert werden. Es sind noch keine – oder nur sehr wenige – Fälle außerhalb Chinas gemeldet worden. Dennoch laufen in der Mall am Boulevard einige Leute mit Atemschutzmasken herum, was wir zu diesem Zeitpunkt für ziemlich albern halten.

Außerdem wohnt in unserem Hostel eine junge Frau aus Korea, die extra koreanische Flaggen auf ihre Tasche und ihr Handy gepinnt hat, damit sie niemand für eine Chinesin hält und denkt, sie würde eine tödliche Krankheit verbreiten. Es machen in der nächsten Zeit Nachrichten die Runde, dass Chinesen – und auch andere Asiaten – aus Angst vor dem Virus in einigen Läden und Restaurants nicht mehr bedient werden.

Wodka und Stalin

Als der Wetterbericht dann den ersten sonnigen Tag voraussagt, brechen wir früh auf, um Batumi zu verlassen. Wir werfen einen letzten Blick zurück auf die Stadt, folgen dem Schwarzen Meer noch für einen halben Tag in Richtung Norden und freuen uns darauf, endlich wieder schönes Wetter, Natur und Ruhe zu haben.

Schon an unserem ersten richtigen Tag auf den Straßen Georgiens stellen wir fest, dass hier vieles anders ist als in der Türkei. Die sowjetische Vergangenheit des Landes grüßt in jedem Ort mit ihren Plattenbauten, den oberirdisch verlaufenden Gasleitungen und den alten Straßen.

Als wir in der Stadt Kobuleti an einem Konsum am Busbahnhof die Einkäufe für den Tag erledigen, tauschen wir ein paar russische Worte mit dem Mann hinter der Theke und werden anschließend beim Einpacken auf einen Wodka eingeladen. Dass es noch vor zwölf Uhr ist, scheint die beiden Herren, die das Gespräch relativ schnell auf Stalin und Hitler lenken, nicht so sehr zu stören. Weil wir an diesem Tag noch ein bisschen weiter kommen wollen als bis zum nächsten Baum und nicht die größten Fans der beiden angesprochenen Herren sind, lehnen wir dankend ab und machen uns auf den Weg, die Stadt zu verlassen.

Irgendwann biegen wir in Richtung Osten ab und lassen das Schwarze Meer hinter uns. Wir fahren jetzt auf der Ebene zwischen dem Großen und dem Kleinen Kaukasus, weshalb sich zu unserer Rechten in den nächsten Tagen die schneebedeckten Berge des kleineren der beiden Gebirge halten und uns immer wieder daran erinnern, dass der Winter noch nicht vorbei ist.

Schlamm und Kühe

Weil es in den letzten Tagen in Strömen geregnet hat und abseits der Hauptstraßen nicht allzu viel Asphalt in den Straßenbau gesteckt wurde, stehen wir am Abend, als wir auf Schlafplatzsuche gehen wollen, vor einem Problem in Form einer wahrscheinlich mindestens knietiefen Pfütze. Der Feldweg drumherum ist komplett aufgeweicht, der Bach nebenan weit über die Ufer gelaufen und alles ist so schlammig, dass wir beim Durchfahren wohl stecken bleiben und geradewegs in den Matsch fallen würden.

Wir drehen daraufhin um, um einen anderen Weg zu der Stelle zu nehmen, die wir als Schlafplatz ins Auge gefasst haben. Dabei kommen wir mit Verkehrsteilnehmern in Berührung, die in Europa eher ungewohnt, hier aber völlig normal und als vollwertige Mitglieder des Straßenverkehrs anerkannt sind: Kühe. Wir stehen uns mit einer kleinen Herden kurz skeptisch gegenüber, weichen dann aber zu verschiedenen Seiten aus und schieben uns aneinander vorbei.

Wenig später finden wir einen Platz neben einem befahrbaren Feldweg, der ein wenig versteckt hinter Sträuchern und Müll liegt, und stellen zum ersten Mal in diesem Jahr unser Zelt auf. Wir haben uns schnell eingerichtet, brauchen ein bisschen, um unseren Kocher wieder in Gang zu bringen, und genießen es, dass wir endlich wieder die Möglichkeit haben, draußen zu schlafen.

Zehntausend

Am nächsten Morgen lassen wir uns viel Zeit beim Frühstücken und Zusammenpacken und brechen relativ spät auf. Bereits nach zwei Kilometern müssen wir dann auch schon die erste Pause einlegen, denn der Tacho zeigt zum ersten Mal eine fünfstellige Zahl an: 10.000. Wir sind tatsächlich zehntausend Kilometer mit dem Fahrrad gefahren.

Obwohl das natürlich nicht ganz überraschend für uns kommt – wir notieren jeden Abend den aktuellen Kilometerstand – ist es schon etwas besonderes für uns, denn wir haben diese Strecke schließlich mit unserer eigenen Körperkraft zurückgelegt und sind 234 Tage in vierzehn verschiedenen Ländern unterwegs gewesen. [Hier haben wir die 10.000 Kilometer erreicht: 41°56’39.2″N 42°03’20.1″E]

Bei guter Laune und großartigem Wetter folgen wir einer Nebenstraße, die uns ein wenig bergauf durch eine Reihe kleinerer Orte führt, in denen viel gewunken und gehupt wird. Zur Mittagspause halten wir in einer Kurve hinter einem Dorf, denn dort steht ein Begrenzungsstein, der sich hervorragend als Sitzgelegenheit mit Ausblick eignet.

Später geht es dann wieder bergab, die Berghänge werden etwas steiler und grüner und hin und wieder ist auch mal ein Wasserfall zu sehen. Als wir an einer Trinkwasserstelle stehen, um unsere Wasservorräte aufzufüllen, hält ein Polizeiauto mit abgebrochenem Seitenspiegel neben uns und der Polizist von der Beifahrerseite steigt aus. Wir müssen zweimal hinschauen, um sicher zu gehen, dass die braune Glasflasche, die er mit frischem Quellwasser füllt, keine Bierflasche ist, sondern mal für Limonade gedacht war.

Wieder Kühe

Am Ende unserer Bergabfahrt führt uns unsere Route auf eine Bundesstraße, von der wir froh sind, dass wir sie nach wenigen Kilometern wieder verlassen können. Wir wollen stattdessen einer kleinen Nebenstraße folgen, die südlich an Kutaisi vorbei bis nach Sestaponi führt, und hatten uns vorab darauf eingestellt, die nächsten beiden Tage auf unbefestigten Wegen zu fahren. 

Dementsprechend sind wir nicht wenig überrascht als wir eine neue und komplett asphaltierte Straße vorfinden. Der Asphalt ist so frisch, dass noch nicht mal Straßenmarkierungen gezogen worden sind, und das, was man hier Kanalisation nennt, gerade noch im Bau ist.

Natürlich sind auch hier allerlei tierische Verkehrsteilnehmer unterwegs, denn die Kühe, Schweine, Gänse, Ziegen und Truthähne, die tagsüber durch die Dörfer ziehen und die Grünflächen bearbeiten, haben auch irgendwann Feierabend und warten vor den Toren ihrer Grundstücke darauf, dass sie jemand hinein lässt.

Vor allem die Kühe haben noch einen wichtigen Zweitjob, denn sie sorgen für die Beruhigung des Straßenverkehrs. Einige Georgier brettern in ihren Autos durch die Gegend, was das Zeug hält, wobei Sicherheitsabstand, Gurt und Konzentration auf den Straßenverkehr eher nebensächlich sind.

Aber so eine Kuh, die mitten auf der Straße steht und gerade ihren Gedanken nachhängt, interessiert es nicht im Geringsten, wie viele Pferdestärken in welcher Geschwindigkeit da auf sie zugerast kommen. Eine Kuh steht, wo sie steht, und geht erst dann weiter, wenn sie den Zeitpunkt für gekommen hält. Ohne die Kühe gäbe es hier wahrscheinlich deutlich mehr Verkehrstote.

Ein Angebot, das wir nicht ablehnen können

Am Abend stehen wir erneut vor dem Problem mit den aufgeweichten und mehr oder weniger unpassierbaren Feldwegen. Dazu kommt, dass die Dörfer an dieser Straße sehr langgezogen sind und ineinander übergehen. Für jemanden, der einen ungestörten Schlafplatz sucht, ist das eher nicht so optimal.

Wir folgen schließlich doch einem der Feldwege, der zwar ebenfalls gut aufgeweicht ist, laut Karte aber zu einem Fluss führt, an dem nicht viele Häuser eingezeichnet sind. Auf halbem Weg kommt uns ein Mann mit Jackett und Brille entgegen, der nicht so wirkt als würde es ihn großartig stören, dass der Schlamm an seinen glänzenden Lederschuhen kleben bleibt. Er kommt auf uns zu und fragt, wie er uns helfen kann.

Sein Name ist Lado und die Kommunikation mit ihm ist alles andere als leicht. Er spricht nur Georgisch und ein bisschen Russisch. Und da sich unser russisches Vokabular ganz stark auf den Supermarkt beschränken lässt, haben wir unsere Schwierigkeiten, ihm zu erklären, dass wir einen Platz zum Zelten suchen. 

Das Ganze wird noch dadurch verkompliziert, dass nicht Lado versteht wie die Translator-App funktioniert. Er versteht nicht, dass er einfach einen Satz ins Handy sagen kann, der uns dann übersetzt wird. Stattdessen hält er sich das Handy ans Ohr als würde er telefonieren und wartet darauf, dass ihm jemand antwortet.

Irgendwann ruft er seine Schwester an, die uns in gebrochenem Englisch erklärt, dass Lado uns gern helfen möchte und wir in seiner Jagdhütte übernachten könnten. Von einem komplett Fremden, mit dem wir uns kein Wort unterhalten können, ist das natürlich eine großartige Geste und wir fühlen uns ein wenig undankbar, aber eigentlich wollen wir lieber für uns sein und zelten.

Wir sind in den letzten Wochen mit so vielen Leuten in Kontakt gewesen und auch die fünf Tage im Hostel in Batumi mit ein paar wenigen, aber lautstarken Besserwissern und Wichtigtuern waren durchaus anstrengend. Wir brauchen jetzt einfach etwas Zeit für uns, um uns wieder auf neue Leute einlassen können. Und so ein Abend mit einem Fremden, den man nicht versteht, kann unglaublich witzig und schön sein, aber halt auch echt anstrengend.

Wir versuchen, uns freundlich aber bestimmt aus der Situation herauszureden, aber Lado lässt nicht locker. Er besteht darauf, dass er uns nur helfen will, und wir haben ein bisschen Angst, ihn zu beleidigen, wenn wir sein Angebot nicht annehmen. Und weil wir das natürlich auch nicht wollen, folgen wir ihm schließlich zu seiner Jagdhütte. Im Nachhinein sind wir mehr als einmal froh, dass wir uns haben bequatschen lassen. 

Zwischen Weihrauch und Jagdgewehren

Lados Jagdhütte ist ein alter Bahnwagon, der ganz idyllisch zwischen zwei kleinen Seen steht und mit einem Bett, einem Gaskocher und einer Elektroheizung ausgestattet ist. Für uns, die in der Vergangenheit gern und viel in Zügen unterwegs gewesen sind und ja gerade wieder mehr in der Natur unterwegs sein wollen, ist das eine der coolsten Unterkünfte, die wir uns vorstellen können. 

Lado zeigt uns alles – die Stromversorgung, die uns beängstigend alt und improvisiert erscheint, die große Flasche Wein, aus der wir uns bedienen können, und seine Ikonenbilder auf dem Tisch. Er zündet ein Stück Weihrauch an, um Geruch von gebratenem Fisch zu überdecken und eine andächtigere Stimmung entstehen zu lassen. Lado ist sehr gläubig und bittet uns, uns vor seinen Ikonen zu bekreuzigen, was wir im ersten Versuch ein bisschen versauen. [Für alle, die ähnlich wenig Kirchensteuern bezahlt haben wie wir, kommt hier die korrekte Reihenfolge der Bekreuzigung in der orthodoxen Kirche: Stirn, Brust, rechte Schulter, linke Schulter.]

Nach dem Bekreuzigen und bevor Lado aufbricht – denn er ist auf dem Weg zu einer Feier gewesen, weshalb seine Hütte am Abend und in der Nacht für uns frei ist – zeigt er uns noch ganz stolz sein Jagdgewehr und besteht darauf, dass Denis es einmal ausprobiert. Er ist glücklicherweise kein Vogel zugegen, der als Ziel dienen könnte, und so schießt er unter dem fachmännischen Blick unseres Gastgebers einfach ein paar Mal in die Luft und ist froh, das Gewehr wieder abstellen zu können.

Nachdem Lado aufgebrochen ist, richten wir uns im Wagon ein, kochen uns zum Abendbrot eine große Packung Nudeln mit Tomatensoße und gehen früh ins Bett. Wir lauschen dem Wind, der den aufkommenden Regen so hart gegen den Wagon bläst, dass es wackelt, und sind ein weiteres Mal froh über Lados konsequente Beständigkeit.

Am nächsten Morgen kochen wir zum Frühstück wie immer Haferflocken mit Milch. Weil Tante Emma am Vorabend allerdings keine “normale” Kuhmilch in ihrem Laden hatte, haben wir gesüßte Kondensmilch gekauft, denn die führt hier jeder Konsum. Sehr schnell stellen wir fest, dass diese Milch für uns absolut keine Alternative darstellt, weil sie so süß ist, dass sie uns die Zähne zusammenklebt. Zum Garnieren von Blini und Co. sicherlich eine gute Wahl, für Haferflocken definitiv nicht. Lados Hund, der unter dem Wagon lebt und schon so alt ist, dass er keine Zähne mehr hat, freut sich jedenfalls über das unerwartete Frühstück.

Lado selbst kommt am Morgen nochmal vorbei, um uns von seiner Schwester am Telefon ausrichten zu lassen, dass wir länger bleiben und das Ende des Regens abwarten könnten. Weil wir kürzlich allerdings schon viel Zeit mit dem Warten auf schönes Wetter verbracht haben, bedanken wir uns und brechen auf. Natürlich erst, nachdem wir zum Abschied noch ein Glas Wein mit unserem Gastgeber getrunken haben, das er wegext wie den letzten Schluck in einer Wasserflasche.

Viel, viel Wasser

Die Regenfront, die über Nacht aufgezogen ist, hat den Feldweg, auf dem wir zurück zur Straße fahren, nur unerheblich weiter aufgeweicht. Das liegt nicht etwa daran, dass nur wenig Niederschlag gefallen ist, sondern daran, dass er einfach nicht großartig weiter aufzuweichen war. Und da wir uns weiterhin zwischen zwei Gebirgen befinden, die ein Abziehen der Wolken verhindern, bleibt uns der Regen erstmal für mindestens zwei Tage erhalten.

Wie schon in den letzten Tagen, gibt es für uns viel zu winken als wir zurück auf der Straße sind und die Stadt Wani durchqueren. Neben den Hupern und Winkern gibt es in Georgien eine ganze Menge Glotzer, die einfach nur dastehen, beobachten und weder eine Miene verziehen noch auf unsere Grüße reagieren. Wir schieben das erstmal auf die Tatsache, dass hier wahrscheinlich nicht so viele Leute auf die Idee kommen würden, selbst im Regen mit dem Fahrrad zu fahren und dabei so lächerlich viel Gepäck dabei zu haben wie wir.

Als Denis mit seinem Neongelben Regenponcho später die Filiale einer Bank betritt, um Geld abzuheben, wirken die beiden Security-Mitarbeiter zumindest mal ein wenig irritiert und scheinen nicht so genau zu wissen, ob ihr Eingreifen gefragt ist oder es sich um einen harmlosen Irren handelt. Sie lassen ihn schließlich seine Geldgeschäfte erledigen und schauen uns erheitert hinterher als wir weiterfahren.

Der Regen hält sich wie erwartet den ganzen Tag, die Temperaturen sind auf einstellige Plusgrade zurückgegangen, die Wolken hängen tief und färben die Gegend grau. So hatten wir uns die Flucht vor dem Winter nicht unbedingt vorgestellt. Das Wasser kommt mittlerweile nicht mehr nur von oben, sondern von allen Seiten. Die hiesige Kanalisation besteht aus etwa knietiefen Gräben links und rechts der Straße, in denen das Wasser abgeführt wird, und ist mit den Wassermassen komplett überfordert.

Die Gräben sind bereits so stark überlastet, dass ihre Uferlinien größtenteils nicht mehr auszumachen sind und sie einfach in den Grünstreifen neben der Straße oder direkt in die Fahrbahn übergehen. Auch die Felder und Hügel um uns herum können kein Wasser mehr aufnehmen, sodass sich überall Kanäle und kleine Wasserfälle bilden. 

Zum Mittag wärmen wir uns in einem Restaurant auf, bevor die Strecke richtig hügelig zu werden beginnt. Es geht immer wieder für ein paar Kilometer steil bergauf und anschließend etwa genauso steil wieder bergab. Vor jedem Anstieg ist ein Verkehrsschild platziert, das den prozentualen Anstieg anzeigt, der auf uns wartet. Und zwar immer genau dort, wo es gerade noch bergab geht, sodass wir uns schon lange vorher auf den nächsten Anstieg freuen können.

Warmes Wasser und ein Heizstrahler

Am Abend erreichen wir wie geplant die Stadt Sestaponi und kehren im ersten Hotel ein, das wir finden können, denn wir sind mittlerweile komplett durchnässt und frieren gewaltig. Das Hotel befindet sich im Hinterhof einer Tankstelle und hat seine besten Jahre bereits lange hinter sich – falls es überhaupt sowas wie gute Jahre hatte. 

Es scheint ein familiengeführtes Hotel zu sein, in dem die Oma das Sagen hat, uns eincheckt, abkassiert und unser Zimmer zeigt, während sie einer jüngeren Frau – wahrscheinlich ihrer Tochter – Anweisung beim Putzen der anderen Zimmer erteilt.

Zu unserer Enttäuschung hat unser Zimmer keine Heizung, sondern lediglich einen kleinen Heizstrahler. Darüber, dass es weder Duschkabine und noch Duschkopf gibt, sehen wir geflissentlich hinweg, denn das Wasser ist warm, und das ist alles, was zählt. Das Klopapier verfügt über eine Körnung, mit der wir wohl rohe Holzflächen feinschleifen könnten, und scheint geradewegs aus den 1960er Jahren in unser Zimmer gebracht worden zu sein.

Wir verbringen den Abend damit, unsere nassen Sachen abwechselnd neben dem Heizstrahler zu platzieren, um sie getrocknet zu bekommen, die restlichen Nudeln vom Vorabend zu essen und uns in unsere Schlafsäcke zu kuscheln.

Hupen und Winken

Der nächste Morgen hält eine große Überraschung für uns bereit: es regnet nicht mehr. Stattdessen schneit es jetzt. Die Temperaturen sind noch weiter gefallen, der Schnee fällt in großen, feuchten Flocken und bleibt sogar zum Teil liegen. Und um nach Khashuri zu gelangen, wo wir an diesem Abend von einem Warmshowers-Host erwartet werden, müssen wir einen Berg überwinden, der auf jeden Fall hoch genug ist, um über Nacht richtig schön eingeschneit worden zu sein. 

Direkt hinter Sestaponi beginnt der Highway, den wir bisher gemieden haben, und bereits nach wenigen Kilometern wissen wir, dass das die richtige Entscheidung gewesen ist. Heute können wir ihm allerdings nicht entgehen, denn die einzige Alternative ist unbefestigt, abschnittsweise sehr steil und mit sehr hoher Wahrscheinlich ebenfalls eingeschneit.

Auf der E60 mit dem Fahrrad zu fahren macht keinen Spaß, weil sie ziemlich stark befahren ist und praktisch über keinen Seitenstreifen verfügt. Und weil die Georgier alles und jeden anhupen. Wobei das Hupen ein vollständiger Gruß zu sein scheint, der ein Zurückwinken überflüssig macht. Gelächelt wird im Straßenverkehr sowieso nicht. 

Vor allem LKW-Fahrer beginnen mit dem Hupen, wenn sie direkt hinter oder neben uns fahren – wahrscheinlich um uns zu warnen, dass wir überholt werden, was wir natürlich aufgrund des Motorenlärms und des beständigen Stroms an Fahrzeugen auf der Straße nicht hätten ahnen können. 

Ja, das Fahren auf Hauptverkehrsstraßen ist wirklich nervenaufreibend und deshalb kommt hier ein konstruktiver Hinweis an alle Auto-, aber vor allem auch an die LKW- und Busfahrer unter unseren Lesern: Kein Radfahrer auf der Welt – also wirklich gar keiner – freut sich darüber, wenn direkt hinter oder neben ihm wild gehupt wird. Auch nicht, wenn ihr euch freut, uns anfeuern oder warnen wollt. Es erhöht den Stress ungemein, wir erschrecken uns meistens darüber und es ist einfach ein unangenehmer und ein für uns mindestens doppelt so lauter Ton wie für euch.

Bremsbeläge und Chinesen

Nach etwa zwanzig Kilometern müssen wir eine Zwangspause einlegen, weil Denis vorne nicht mehr bremsen kann. Die Mechanik der Bremse funktioniert noch einwandfrei, aber die Beläge sind einfach so weit abgefahren, dass sich das Rad nicht mehr kontrollieren lässt. Und das ist auf einer engen, vielbefahrenen Straße nicht gerade die beste Voraussetzung. Wir suchen also einen einigermaßen windgeschützten Platz an einer Tankstelle und tauschen die Beläge mit fast abgefrorenen Fingern aus. Begleitet wird dieser Vorgang vom ständigen Fluchen über das unpraktische System unserer Bremsen, die sich kaum wieder gleichmäßig einstellen lassen.

Anschließend müssen wir schnell wieder auf den Sattel, denn die niedrigen Temperaturen in Kombination mit dem kalten Wind sorgen dafür, dass wir schnell auskühlen, wenn wir uns nicht bewegen. Es geht stetig weiter bergauf und der Schnee bleibt mittlerweile neben der Straße liegen. Die Restaurants und Straßenstände, die im Sommer vor allem Touristen verköstigen, sind zu einem überwiegenden Teil geschlossen. Und irgendwann, ziemlich weit von der nächsten Ortschaft entfernt, überholen wir einen Wanderer mit einem riesigen Rucksack und Wanderstock, dessen Laune auch nicht deutlich besser zu sein scheint als unsere.

Neben der Straße wird fleißig am neuen Highway gebaut, der die E60 ersetzen und mit allerlei Tunneln ausgestattet sein wird, um den einen oder anderen Höhenmeter einzusparen. Es scheint sich um ein chinesisches Bauprojekt zu handeln, denn es sind fast ausschließlich Chinesen auf den Baustellen zu sehen und alle relevanten Schilder sind auf georgisch, englisch und chinesisch beschriftet.

Ice, Ice, Baby

Etwa zwölf Kilometer vor dem höchsten Punkt beginnt es, richtig steil zu werden. Wir kommen immer langsamer voran, auch die Autos fahren langsamer und dafür noch dichter an uns vorbei und es ist mittlerweile nicht mehr möglich, die Fahrbahn zu verlassen. Der Schnee liegt hier direkt neben der Straße bereits so tief, dass wir bestimmt bis zu den Knien darin versinken würden.

Trotzdem müssen hier eine kurze Mittagspause einlegen und uns mal unsere Ketten etwas genauer anschauen, denn wir können beide nicht mehr richtig schalten. Das ist zwar nicht kriegsentscheidend ist, weil wir sowieso fast im kleinsten Gang fahren müssen, aber eben auch nicht das beste Zeichen. Der Grund ist dann ziemlich schnell gefunden, denn das Schaltwerk am hinteren Rad ist einfach komplett eingefroren. Wir stellen auch fest, dass die Taschen nicht nur mit Schnee bedeckt, sondern zugefroren sind, und die Warnwesten, die wir auf die Hecktasche geklemmt haben, sind komplett vereist.

Einige weitere kalte und matschige Kilometer später erreichen wir den Tunnel am Rikoti Pass auf knapp 1.000 Metern Höhe über dem Meeresspiegel. Die Luft im Tunnel ist etwas wärmer als draußen, weshalb unsere Gangschaltungen auf der Durchfahrt wieder auftauen. Das ist überaus praktisch, weil es ab sofort bergab geht, wofür sich ein hoher etwas besser macht als der kleinste.

Leider ist es hinterm Tunnel mindestens genauso kalt wie davor. Dementsprechend ist die Gangschaltung nach wenigen Kilometern bereits wieder eingefroren – dieses Mal auf einem der höchsten Gänge. Solange es bergab geht, ist das natürlich kein Problem. Sobald wir unten angekommen sind und wieder treten müssen, dann aber doch.

Wir sind mittlerweile so schlimm durchgefroren wie noch nie auf dieser Reise und kommen nur schleppend voran, weil es sich einfach viel zu schwer tritt. Glücklicherweise können wir den Highway aber wieder verlassen und haben auf den wenigen Kilometern bis nach Khashuri ein wenig Ruhe.

Auftauen

Unsere Warmshowers-Hosts sind heute Christoph und Tamra, die ein Hostel in der Stadt haben und Radfahrern über Warmshowers eine kostenlose Übernachtung anbieten. Weil die beiden einen Termin in Tiflis haben, werden wir von ihren beiden Vertretern Michèle und Silvan aus der Schweiz empfangen. Bevor wir in der Lage sind, unsere Fahrräder zu entladen, müssen wir erstmal aber erstmal ins Haus, um selbst aufzutauen und vielleicht die Brille zu putzen.

Die Räder bleiben also erstmal voll bepackt im Hof stehen und wir bekommen einen heißen Tee im Gemeinschaftsraum serviert. Michèle und Silvan sind selbst Langzeitreisende und mit dem Camper unterwegs. Sie sind eher zufällig im Rest Camp [so heißt das Hostel] gelandet, wollten hier nur eine Pause machen und Wäsche waschen, sind dann aber hängen geblieben und vertreten Christoph und Tamra jetzt hin und wieder. Sie erzählen uns beim Tee ein wenig über ihre Reise, vor allem über ihre Erlebnisse im Iran, und dass sie planen, im Frühjahr dort wieder hinzufahren.

Als wir einigermaßen aufgetaut sind und die Brille geputzt ist, wagen wir uns wieder nach draußen, um festzustellen, dass die Fahrräder noch da sind, eine der Warnwesten aber mit einem Loch am Boden liegt. Im Hostel leben ein paar Hunde, von denen einer noch sehr jung und wild, aber auch gleichzeitig schon echt groß ist, und Spaß am zerfleddern von bunten Stoffen hat. Dieser Hund ist es auch, der Denis sehr überschwänglich anbellt und in den Oberschenkel beißt, was Christoph später als seine Art “Hallo” zu sagen erklären wird.

Nachdem die Hunde eingesperrt worden sind, holen wir die Taschen rein und bringen sie gleich ins Bad, denn sie müssen in der Dusche übernachten. Sie sind auf der Straße so dreckig geworden sind, dass sie das ganze Haus eingesaut hätten. Die Fahrräder übernachten im Heizungskeller, damit die Schaltung wieder auftauen kann.

Am Abend kommen Christoph und Tamra aus Tiflis zurück und wir essen gemeinsam mit den beiden, Michèle, Silvan und Keith, einem weiteren Hostelgast, ein hausgemachtes Abendessen. Christoph kommt aus Deutschland, hat das Hostel zusammen mit seiner georgischen Frau Tamra im letzten Frühjahr eröffnet und Radfahrer relativ schnell als Zielgruppe entdeckt. Denn fast alle, die in Richtung Osten unterwegs sind, durchqueren Georgien. Und Khashuri ist ziemlich praktisch an einer der wenigen Hauptstraßen gelegen, die das Land in Ost-West-Richtung durchqueren. Im Sommer hatten sie jede Woche bestimmt zehn Radfahrer zu Besuch und auch jetzt im Winter sind wir nicht die einzigen.

Nachdem wir noch ein bisschen mehr erzählt, den Wein geleert und uns gemeinsam über georgische Autofahrer ausgelassen haben, löst sich die Runde auf und wir gehen in unser warmes Zimmer.

Ein paar Daten

  • Kilometerstand: 10.187 km
  • Streckenverlauf: Sarpi – Batumi – Kobuleti – Osurgeti – Wani – Sestaponi – Khashuri
  • Übernachtungen: 5 x Hostel, 1 x Zelt, 1 x Bahnwagon, 1 x Hotel, 1 x Warmshowers
  • Zeitraum: 31. Januar – 8. Februar 2020

In eigener Sache

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Von Anika

Irgendwas mit Fahrradfahren.

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